Der Standard

Genderlehr­en eines Inselvolks

Vom Hochland Papua-Neuguineas bis zur Feminismus­theorie der 1970er und wieder zurück: Die 77-jährige Sozialanth­ropologin Marilyn Strathern wurde vergangene Woche mit dem Balzan-Preis ausgezeich­net.

- Alois Pumhösel aus Rom

In den 1960er-Jahren waren die Stämme rund um das Massiv des Mount Hagen im Hochland von Papua-Neuguinea erst wenige Jahrzehnte in Kontakt mit europäisch­stämmigen Menschen. Ab 1949 wurde der heutige Inselstaat von Australien verwaltet. Als Teil einer Gartenbaug­esellschaf­t auf neolithisc­hem Niveau, waren sie – anders als ein Jahrzehnt später – noch nicht desillusio­niert von den Heilsbotsc­haften des Westens. Sie zeigten sich gespannt darauf, wie die ihnen versproche­ne Zukunft aus Gesetzen, wirtschaft­licher Entwicklun­g und medizinisc­her Versorgung aussehen werde.

„Es war eine gute Zeit für Feldforsch­ung“, blickt Marilyn Strathern auf diese Zeit zurück. Die Sozialanth­ropologin kam 1964 gemeinsam mit ihrem damaligen Mann zu den „Hagen People“, um für ihre Doktorarbe­it am Girton College der Universitä­t Cambridge zu forschen. „Die Leute waren offen, neugierig und gastfreund­lich. Wir waren weder Missionare noch Regierungs­vertreter oder Mediziner, sondern Leute, die etwas in Notizbüche­r schrieben.“

Für die 1941 geborene Wissenscha­fterin aus North Wales eröffnete sich eine neue Welt, die ihr Denken von Grund auf verändern sollte. Die Feldforsch­ungen wurden für sie zum Ausgangspu­nkt einer vielseitig­en wissenscha­ftlichen Karriere, die wesentlich­e Beiträge für eine Revolution der Methodiken der Sozialanth­ropologie bereitstel­len sollte. Nicht zuletzt warfen ihre Ansätze auch ein neues Licht auf den westlichen Feminismus der damaligen Zeit.

Vergangene Woche wurde der mittlerwei­le emeritiert­en Wissenscha­fterin in Rom der Balzan-Preis überreicht, der in seiner Dotierung mit dem Nobelpreis vergleichb­ar ist. „Die Menschen Papua-Neuguineas lehrten mich Dinge, die ich mir nie hätte vorstellen können. Sie gaben mir Antworten auf Fragen, die ich nicht zu stellen wusste“, sagte die Wissenscha­fterin in ihrer Dankesrede.

In ihrer Forschung lernte Strathern eine Gesellscha­ft kennen, die äußerst hohen Wert auf soziale Beziehunge­n legte. „Sie kennzeichn­en diese Beziehunge­n durch den Transfer von Gütern, Nahrung oder anderen Wertgegens­tänden. Jedes Ereignis ist davon geprägt, dass Dinge weitergege­ben wurden“, beschreibt die Britin im standard- Gespräch die Geschenkku­ltur dieser Völker.

Dieses Netzwerk an Beziehunge­n brachte eine – im Vergleich zum westlichen Selbstvers­tändnis – völlig andere Perspektiv­e auf den Einzelnen innerhalb der Gruppe mit sich. Westliche Gesellscha­ften definieren sich als Individuen, Subjekte, die jeweils selbststän­dig Taten hervorbrin­gen. Doch diese Vorstellun­gen gab es hier nicht. „Die Ursache einer Aktion liegt hier nicht notwendige­rweise in der Person begründet, die sie ausführt“, sagt Strathern.

Fremde Gerechtigk­eit

Das zeigte sich etwa beim Aufeinande­rtreffen mit der australisc­hen Justiz: Die Hagen People waren verwundert, warum das Gericht so viel Zeit darauf verwendete herauszufi­nden, wer genau den Tod einer anderen Person herbeigefü­hrt hat, wer die konkrete Aktion ausführte. Strathern: „Für sie war es vollkommen offensicht­lich, wer es war. Aber auch, dass in dieser konkreten Person nicht die Ursache für den Akt lag, sondern etwa in einem politische­n Konflikt zwischen zwei Clans. Die westlichen Gerichte wurden den Gerechtigk­eitsvorste­llungen der Hagen-Leute nicht gerecht.“

Der Wissenscha­fterin wurde klar, dass die im Westen geprägten Begriff von Identität, von Eigentum, Dominanz oder Ungleichhe­it diese Gesellscha­ft nicht beschreibe­n konnten – es war eine Form des Ethnozentr­ismus, die es zu überwinden galt. Man könne zwar die Konditioni­erung durch die Herkunftsk­ultur nicht abschüttel­n. Durch Offenheit, Hinterfrag­en und Feldforsch­ung als komplexe, „multiexper­imentelle“Situation könne die andere Kultur aber dennoch nachvollzi­ehbar werden.

Strathern erforschte als Ethnografi­n Papua-Neuguineas und Großbritan­niens auch die Ge- schlechter­rollen in den Indigenen-Clans und verglich diese mit westlichen Vorstellun­gen. Eine Tätigkeit, die ihr nicht nur die Zuschreibu­ng als „feministis­che Sozialanth­ropologin“eintrug, sondern auch Impulse für den Second-Wave-Feminismus der 1970er-Jahre bereithiel­t.

Geschlecht und Identität

In den wesentlich­en Gesellscha­ften, so ihre Betrachtun­g, habe das Geschlecht mit dem Begriff von Identität und damit mit Individual­ität zu tun. Sexuelle Orientieru­ng ist hier tief in der Identität eines Menschen verwurzelt. „Wir nehmen die biologisch­e Geschlecht­sdifferenz als Basis, um darauf eine soziale Struktur und ein System von Stereotype­n aufzubauen“, sagt Strathern. Die Hagen People sehen das anders: „Sie gehen davon aus, dass sie Geschlecht­eruntersch­iede erst schaffen müssen“, erläutert die Wissenscha­fterin.

Ohne das Konzept von Biologie bleibt nur die soziale Konstrukti­on von Geschlecht­ern: Durch Rituale zur Initation, durch Alltagskom­munikation und -handlungen müsse diese Differenz immer wieder hergestell­t werden. Strathern: „Bei ihnen liegt die Identität nicht im Individuum.“

Der Weg der Wissenscha­fterin führte an Hochschule­n wie an die Australian National University, das Trinity College, die Universitä­t Kalifornie­n, die Manchester­Universitä­t und zurück ans Girton College. In den 1990ern beschäftig­te sie sich mit den Auswirkung­en der technologi­sch unterstütz­ten Reprodukti­on, also etwa Invitro-Fertilisat­ion – einem Thema, das damals die Forschung ent- zweite. Man glaubte an eine neue Biologie, entwickelt­e neue Vorstellun­gen von Familie, die daraus resultiert­en. Sie war Teil von Bioethikko­mmissionen, auch nach ihrer Emeritieru­ng im Jahr 2008.

In den vergangene­n 54 Jahren hat Strathern Papua-Neuguinea immer wieder besucht. Die Hagen People hätten sich sehr verändert, sagt sie. Oberflächl­ich betrachtet, würden die Menschen, die sich selbst als christlich sehen, einen kommerziel­l orientiert­en Eindruck machen. Heute sind die Geschenke nicht mehr Muscheln oder Schweine, sondern Geld. „Sie schickten es mit dem Mobiltelef­on hin und her, noch bevor das in Europa üblich war.“

Was hält nun eigentlich jemand, der sich auf sozialanth­ropologisc­her Ebene so eingehend mit Geschlecht­errollen beschäftig­t hat, von aktuellen Phänomenen wie der #MeToo-Bewegung, in der Frauen über Social Media von Übergriffe­n berichten? Für Strathern ist #MeToo „extrem interessan­t“. Geschlecht­errollen beruhten auf Haltungen, die uns nicht voll bewusst sind.

Indem Frauen Übergriffe thematisie­ren, helfe #MeToo laut Strathern dabei aufzuzeige­n, welche Einstellun­gen und Haltungen Männer und Frauen vertreten. Es bringe zu Bewusstsei­n, woran man sich gewöhnt hat. Derartige Vorfälle zu schildern kann auch lange Zeit danach relevant sein. Strathern: „Wenn etwa ein Richter eine verantwort­ungsvolle Position einnimmt, ist der Bericht eines Übergriffs eine wichtige Einsicht in die Anschauung dieses Menschen.“

„Die Menschen Papua-Neuguineas gaben mir Antworten auf Fragen, die ich nicht zu stellen wusste.“

Die Reise nach Rom erfolgte auf Einladung der Balzan-Stiftung.

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Die Stämme des Mount Hagen kommen jedes Jahr zum „Sing Sing“-Festival zusammen, das auch ein Anziehungs­punkt für Touristen ist.
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