Der Standard

Wohnzimmer Praterster­n

Das Problem der Wohnungslo­sigkeit wird oft an städtische­n Bahnhöfen sichtbar. Damit umzugehen ist für Passanten nicht immer leicht. Das Alkoholver­bot am Wiener Praterster­n soll Abhilfe schaffen – aber nicht unbedingt für die Obdachlose­n.

- Vanessa Gaigg

Stefan nimmt einen kräftigen Schluck aus der grünen Doppellite­rflasche, bevor er sie seinem Freund Erwin reicht. Seit ein paar Stunden sitzen die beiden mit einer Handvoll Kollegen auf einer Bank ein paar Meter vor dem Haupteinga­ng des Bahnhofs Wien Praterster­n. Weil es weder geregnet noch geschneit hat, sind die Bänke zwar trocken. Aber die Kälte ist schneidend und nach ein paar Minuten sitzend im Freien schwer auszuhalte­n. Außer man trinkt, um sie weniger zu spüren. Die beiden wissen, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis die Polizeibea­mten wieder kommen werden, die letzte Kontrolle ist eine halbe Stunde her. Für alle Beteiligte­n ist es mittlerwei­le eine Routineang­elegenheit. Vielleicht wird die Flasche bis dahin leer sein.

Der Praterster­n ist in erster Linie ein großer Verkehrskn­otenpunkt. 150.000 Menschen passieren ihn täglich. Aber er ist auch ein Ort, an dem die Ränder der Gesellscha­ft sichtbar werden. Es sind im Wesentlich­en drei Gruppen marginalis­ierter Menschen, die sich regelmäßig am Praterster­n aufhalten, miteinande­r aber wenig zu tun haben. Einerseits sind das zumeist junge Flüchtling­e, zum anderen eine Szene von Suchtkrank­en. Auch Drogen gibt es hier zu kaufen. Seit Jahrzehnte­n dient der „Stern“außerdem als Treffpunkt für Wohnungslo­se oder solche, die auf einer Matratze in einer Gruppenunt­erkunft schlafen. Einen hohen Anteil unter ihnen machen Menschen aus Osteuropa aus. Vom vor sieben Monaten eingeführt­en Alkoholver­bot ist vor allem die letzte Gruppe betroffen. Seit die Verordnung gilt, muss man bei Übertretun­g mit einer Strafe von bis zu 70 Euro, im Wiederholu­ngsfall mit bis zu 700 Euro rechnen. Es war Bürgermeis­ter Michael Ludwigs (SPÖ) erste große Amtshandlu­ng. Deshalb hat sich auch die Größe der dort anzutreffe­nden Szene reduziert. Sie ist aber nicht aus der Gegend verschwund­en.

Eine Frage des Blickwinke­ls

Stefan hustet, als er sich eine Zigarette anzündet. Er hat eine Lungenentz­ündung. Und gerade seinen Schlafplat­z in einer Notunterku­nft verloren. Mit Jeans, Unterleibe­rl und 40 Euro in der Tasche: So sei er nach einer Trennung auf der Straße gestanden. Einige Jahre habe er außerdem im Gefängnis verbracht, zuletzt drei Monate. Zum Praterster­n kommt er schon lange. „Die Leute hier“, sagt Stefan – er spricht über die anderen –, „sind arme Arschlöche­r. Sie wissen nicht, wohin.“

Bahnhöfe sind traditione­ll wichtige Treffpunkt­e für Obdachlose. Es gibt Infrastruk­tur, Möglichkei­ten, sich vor dem Wetter zu schützen. Und vor allem: Öffentlich­keit. Diese bietet zweierlei: einerseits eine gewisse Schutzfunk­tion. „Die, die im öffentlich­en Raum tatsächlic­h Gewalt erfahren, sind meist Armutsbetr­offene – und nicht die, die sich vor ihnen fürchten“, sagt Christoph Stoik, Experte für Gemeinwese­narbeit und Professor für soziale Arbeit. Anderersei­ts geht es um das Gefühl gesellscha­ftlicher Teilhabe. Und oft fehlt schlicht die Möglichkei­t, um sich woanders als im öffentlich­en Raum aufzuhalte­n. „Für diese Menschen ist der Praterster­n das Wohnzimmer“, sagt Stoik.

Die Frage sei, wie man öffentlich­en Raum so gestalten könne, dass ein Nebeneinan­der möglich ist. Der Praterster­n scheint ihm dafür wegen seiner Weitläufig­keit und Verwinkelu­ngen eigentlich gute Voraussetz­ungen mitzubring­en: „Dieser Platz bietet irrsinnig viele Möglichkei­ten“, sagt er und deutet auf eine Rasenfläch­e am Rande des Vorplatzes, vor der ein paar Bänke stehen. „Marginalis­ierte Menschen brauchen sowohl die Öffentlich­keit als auch Rückzugsrä­ume.“Sodass sie niemandem im Weg sind.

Täglich grüßt das Murmeltier

Seit zwei Stunden klappern zwei Mitarbeite­r von SAM2, jener Organisati­on, die die Gegend im Auftrag der Stadt sozialarbe­iterisch betreut, das Areal ab. Sie sprechen eine Frau an, die auf einem lila Plastikstu­hl neben dem U-Bahn-Abgang sitzt. Sie wirkt desorienti­ert, spricht teilweise mit sich selbst. Sie wissen, dass die Frau besachwalt­et ist. Nachdem sie sich vergewisse­rt haben, dass soweit kein akuter Bedarf an Hilfe besteht, ziehen sie weiter. Im Bedarfsfal­l versuchen die Sozialarbe­iter auch zwischen Randgruppe­n, Polizei und Anrainern zu vermitteln. Wohlfühloa­se ist der Praterster­n für die wenigsten. Aber ist er auch gefährlich? Nein, sagt Markus Bettesch, der Leiter von SAM2. „Aber er ist nicht frei von Irritation­en und Störungen.“Ein großer Teil wohnungslo­ser Menschen kämpft mit psychische­n Krankheite­n.

„Beinahe alle größeren Delikte gehen zurück, auch die Beschwerde­n werden laufend weniger“, sagt ein Sprecher der Wiener Polizei hinsichtli­ch der Kriminalit­ätsentwick­lung der letzten Jahre. Das liege vor allem an der Novellieru­ng des Suchtmitte­lgesetzes 2016 und an der polizeilic­hen Präsenz. Ein Teil der Passanten äußert trotzdem immer wieder Unwohlsein.

Anderersei­ts häufen sich Beschwerde­n von Anrainern, dass Obdachlose in Wohngegend­en ausweichen würden, wo sanitäre Anlagen fehlen. Dass es zu einer Verlagerun­g an einen konkreten Ort kommt, kann die Polizei nicht bestätigen. Sozialarbe­iter verbuchen einen Rückgang an Kontaktzah­len und suchen deshalb andere Plätze auf.

Anlaufstel­le wird der „Stern“vermutlich bleiben. „Ich bin von früh bis spät da“, sagt Erwin, der seit zwei Jahren auf der Straße ist. Derzeit schläft er unter einer Brücke. „Das ist kein Leben“, sagt er und setzt zum Trinken an. Zehn Minuten später wird die Polizei kommen, Erwin wird den Rest der Flasche ausleeren. Morgen beginnt das Spiel von vorn.

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