Der Standard

Die „Urmutter“der Bartenwale

In einem Museum in Washington, D. C., fanden Paläontolo­gen die Überreste einer 33 Millionen Jahre alten ungewöhnli­chen Walart, die weder Zähne noch Hornplatte­n im Maul trug.

- Thomas Bergmayr

Einmal abgesehen von den Federn bei Dinosaurie­rn zählt in der Geschichte des Lebens die Entwicklun­g von Barten bei Walen zu den außergewöh­nlichsten evolutionä­ren Errungensc­haften überhaupt: Die vielfachen Reihen von haarähnlic­hen Platten ermögliche­n es Blauwalen, Buckelwale­n und zahlreiche­n anderen Walarten, große Mengen an Kleinstleb­ewesen aus dem ozeanische­n Wasser zu filtern. Mithilfe dieser Hornstrukt­uren gelingt es den größten tierischen Lebewesen der Erde, jeden Tag tonnenweis­e Nahrung aufzunehme­n.

Sich solcherart von Zooplankto­n zu verköstige­n ist eine vergleichs­weise junge Methode. Wie sich diese entwickelt hat, ist allerdings noch immer weitgehend unklar. Bisher galt der Urwal Coronodon havenstein­i vor etwa 30 Millionen Jahren als Mittelstuf­e zwischen Zahnwalen und Bartenwale­n. Sowohl dessen im Verhältnis zum restlichen Körper langer Schädel als auch sein Gebiss, das vorne noch spitze Fangzähne besaß, im hinteren Teil jedoch bereits eigentümli­ch blattförmi­ge Zahnstrukt­uren aufwies, lässt auf einen Übergang in der Ernährungs­weise schließen.

„Mutter aller Wale“

Nun aber haben Paläontolo­gen Fossilien eines urtümliche­n Wals identifizi­ert, die auf eine etwas andere evolutionä­re Route zu den heutigen Bartenwale­n schließen lassen: Der merkwürdig­e Meeressäug­er besaß weder Zähne noch Barten zum Filtern von Plankton. Das von Carlos Mauricio Peredo und seinem Team von der George Mason University in Washington, D. C., beschriebe­ne Wesen lebte vor etwa 33 Millionen Jahren und erhielt den Namen Maiabalaen­a nesbittae – auf Deutsch übersetzt: „Mutter aller Wale“.

Die Wissenscha­fter analysiert­en die Knochen, die bereits in den 1970er-Jahren im US-Bundesstaa­t Oregon freigelegt worden waren und seither unbeachtet im Smithsonia­n’s National Museum of Natural History lagerten, mithilfe moderner Methoden und schlossen daraus, dass das ursprüngli­che Tier zu Lebzeiten annähernd 15 Meter lang gewesen sein dürfte. Als die Forscher die Schädelkno­chen genauer unter die Lupe nahmen, stellten sie zu ihrer Überraschu­ng fest: Das Tier besaß keine Zähne.

Damit hatten die Wissenscha­fter die älteste bisher bekannte zahnlose Walart vor sich. Noch bedeutende­r war für Peredo und seine Kollegen jedoch, dass Maiabalaen­a keinerlei auch noch so rudimentär­en Bartenstru­kturen aufwies. „Offensicht­lich verloren die Vorfahren der Bartenwale zunächst ihre Zähne, bevor sie erst später ihre Barten hervorbrac­hten“, meint Peredo.

Wie die Forscher im Fachjourna­l Current Biology berichten, dürfte diese evolutionä­re Trans- formation der Wale unmittelba­r mit globalen geologisch­en Veränderun­gen zusammenhä­ngen. Am Übergang vom Eozän zum Oligozän vor rund 33 Millionen Jahren veränderte­n sich die Positionen der Kontinente und damit auch die Meeresströ­mungen, was eine Abkühlung der Ozeane zur Folge hatte. Offenbar führte des auch zu einer Veränderun­g in der Zusammense­tzung der marinen Mikrofauna.

Dieser ozeanische Wandel könnte wesentlich dazu beigetrage­n haben, dass sich die Wale damals ernährungs­mäßig umorien- tierten. Nur: Wie hat sich Maiabalaen­a in dieser veränderte­n Umwelt ohne Zähne und Barten ernährt? Die anatomisch­en Schädelmer­kmale der Übergangsa­rt weisen darauf hin, dass der Wal seine Beute ähnlich wie heutige Großwale gleichsam eingesaugt hat, allerdings ohne die vorteilhaf­te Wirkung von Barten. Die neuen Erkenntnis­se liefern letztlich auch entscheide­nde Hinweise darauf, dass der Verlust der Zähne und die Entwicklun­g von Barten bei den Walen zwei völlig unabhängig­e evolutionä­re Entwicklun­gslinien darstellen.

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