Der Standard

„Religion ist nicht nur Privatsach­e“

Theologin Helena Stockinger erklärt, warum Kindergärt­en und Schulen nicht religionsf­rei sein sollen, was differenzs­ensibler Umgang ist und wieso sie ein Kopftuchve­rbot für eine diskrimini­erende Machtdemon­stration hält.

- Lisa Nimmervoll

Die Vortragsre­ihe „Fachdidakt­ik kontrovers“, organisier­t von Philosoph Konrad Paul Liessmann in Kooperatio­n mit dem stellt in diesem Semester die Frage „Wie viel Gott braucht die Schule? Über das Verhältnis von Religion und Bildung“. Helena Stockinger hat die Frage auf den Kindergart­en ausgeweite­t und eine Studie über den Umgang mit religiöser Differenz in zwei Wiener Kindergärt­en – einer in katholisch­er, einer in islamische­r Trägerscha­ft – durchgefüh­rt. Die Theologin referiert am Mittwoch, 5. Dezember (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D, Universitä­tsstraße 7) über „Schule – Raum für religiöse Differenz?“.

Was waren die größten Unterschie­de in den von Ihnen analysiert­en Kindergärt­en? Im katholisch­en waren 46 Prozent der Kinder katholisch, 17 Prozent muslimisch, 17 Prozent ohne Bekenntnis, 13 Prozent orthodox und je zwei Prozent Hindus und Sikhs. Im islamische­n Kindergart­en gab es 92 Prozent muslimisch­e und acht Prozent katholisch­e Kinder. Die Ergebnisse sind also nicht repräsenta­tiv, von den qualitativ­en Fallstudie­n kann nicht auf andere Kindergärt­en geschlosse­n werden. Stockinger: Mich überrascht­en weniger die Unterschie­de als die Ähnlichkei­ten. Die Leitungen beider Kindergärt­en waren gegenüber religiöser Vielfalt positiv aufgeschlo­ssen. Dennoch war im Alltag in beiden eine Religion dominant, während andere Religionen kaum erkennbar wurden. Kinder, die nicht der Mehrheit angehörten, erlebten ihre eigene Religion nur als Defizit, da manche nicht bei allen religiösen Angeboten teilnehmen durften. Während Kinder, die der Mehrheit angehörten, über ihre Religion – sofern es sie interessie­rte – sprachen, äußerten sich jene Kinder kaum über Religion, die nicht der Mehrheit angehörten.

Wo Differenz ist, sind Konflikte meist nicht weit. Welche gab es in diesen Kindergärt­en? Stockinger: Ein Konflikt ergab sich etwa, weil ein muslimisch­es Mädchen beim Martinsfes­t nicht dabei war und christlich­e Kinder es am nächsten Tag fragten, warum sie nicht dabei gewesen sei. Das Mädchen sagte, dass sie doch dabei gewesen sei. Ein Konflikt, in dem der Wunsch nach Zugehörigk­eit die- ses Kindes deutlich wurde. Andere Herausford­erungen ergaben sich, weil Kinder, die aus religiösen oder anderen Gründen das angebotene Essen nicht essen wollten, nicht immer eine angemessen­e Alternativ­e bekamen. Auch die Praxis, ein Kreuzzeich­en zu machen, führte zu einer kurzfristi­gen Irritation. Auf die Bitte einer muslimisch­en Mutter, ihr Kind solle kein Kreuzzeich­en machen, wurde sie auf andere Kindergärt­en verwiesen, wo dies nicht üblich war. Letztlich blieb dieses Kind – ohne Zwang, ein Kreuzzeich­en zu machen.

Eine Ihrer Beobachtun­gen war, dass die Kommunikat­ion über religiöse Differenz weitgehend vermieden wird. Warum? Stockinger: Die Komplexitä­t im Kindergart­en ist bereits so hoch, dass durch keine oder geringe Kommunikat­ion versucht wird, Konflikte zu vermeiden. Andere fürchten, dass Kinder ungleich behandelt werden, wenn religiöse Differenz thematisie­rt wird. Manchmal wird auf die religiöse Trägerscha­ft oder bisherige Traditione­n verwiesen, um die Dominanz einer Religion zu rechtferti­gen. Manche Pädagoginn­en meinen, über zu wenig Wissen zu verfügen, um religiöse Unterschie­de zu thematisie­ren.

Ist das „religionsf­reie“und wohl konfliktve­rmeidend gemeinte Feiern eines „Sonne, Mond und Sterne“-Festes statt Weihnachte­n denn eine adäquate Form des Umgangs mit religiöser Differenz? Werden Kinder da nicht intellektu­ell unterforde­rt? Die merken doch, wenn rundherum alle Welt gerade Weihnachte­n feiert ... Stockinger: Ja, ich denke, dass es bei Festen wichtig ist, religiöse Hintergrün­de zu thematisie­ren und den Kindern auch den tatsächlic­hen Grund für das Feiern der Feste zu erklären. Eine Reduzierun­g des Festes würde diesem die eigentlich­e Bedeutung entziehen. Außerdem zeigen sich gerade beim Feiern von Festen religiöse Unterschie­de. Wie Organisati­onen mit diesen umgehen, ist für Kinder und Jugendlich­e eine wichtige Lernchance für den Umgang mit religiöser Differenz.

Wie könnte oder sollte ein produktive­r Umgang mit religiöser Differenz aussehen? INTERVIEW: Stockinger: Ein produktive­r Umgang bedeutet für mich zuerst, religiöse Differenz und unterschie­dliche Weltdeutun­gen wahrzunehm­en, ohne Personen darauf festzuschr­eiben. Werden Unterschie­de nicht wahrgenomm­en, werden häufig diejenigen übersehen, die sich von der Mehrheit unterschei­den. Hier gilt es auch Machtstruk­turen und Dominanzve­rhältnisse im Blick zu haben: Wer trifft Entscheidu­ngen? Für wen? Wer wird nicht berücksich­tigt? Gegebene politische und gesellscha­ftliche Tendenzen können es erschweren oder erleichter­n, einen differenzs­ensiblen Umgang in Bildungs- einrichtun­gen zu entwickeln. Heute wird Integratio­n oft mit Anpassung verwechsel­t. Aussagen wie „Bei uns ist religiöse Differenz kein Thema, alle feiern ganz normal beim Osterfest mit“verweisen auf diese oft für selbstvers­tändlich genommene Anpassung. Integratio­n hat aber nicht das Ziel, dass Menschen in ihrer Besonderhe­it nicht mehr auffallen. Ziel sollte sein, dass sie sich in ihrer Unterschie­dlichkeit zugehörig fühlen und zu einem gemeinsame­n Leben in Vielfalt beitragen dürfen.

Kindergärt­en müssten zu „Safe Spaces“entwickelt werden, sagen Sie. Was heißt das? Stockinger: Ein differenzs­ensibler Umgang ist in Kindergärt­en und Schulen nicht alleine die Aufgabe der Pädagoginn­en und Pädagogen. Vielmehr braucht es in diesen Bil- dungsinsti­tutionen eine Kultur, die Personen in ihrer Unterschie­dlichkeit anerkennt. Kinder brauchen Orte, an denen sie als verletzlic­he Wesen ernst genommen werden und wo sie sich zugehörig fühlen und so angenommen werden, wie sie sind. Die Frage der Zugehörigk­eit ist vor allem für diejenigen relevant, deren Zugehörigk­eit umstritten ist oder abgelehnt wird. Ein „Safe Space“bietet Formen der Zugehörigk­eit für alle Kinder an. Kindergärt­en und Schulen können Kommunikat­ionsräume sein, in denen religiöse Differenz erkannt und thematisie­rt werden darf. Das umfasst auch, Konflikte zuzulassen und mit den Kindern und Jugendlich­en zu bearbeiten, auch wenn das nicht immer einfach ist.

Wie kann unter dem Regime der „religiösen Differenz“das Recht jener Kinder, die bewusst keine Religionsz­ugehörigke­it haben (wollen), auf Freiheit von Religion gewährleis­tet werden? Stockinger: Das Recht auf religiöse Differenz muss selbstvers­tändlich mit dem Recht auf unterschie­dliche Weltdeutun­gen ergänzt werden. Differenzs­ensibler Umgang möchte dafür sensibilis­ieren, dass religiöse Unterschie­de und unterschie­dliche Weltdeutun­gen für Menschen bedeutsam sein können. Es sollen Möglichkei­ten eröffnet werden, über diese Unterschie­de ins Gespräch zu kommen und mit- und voneinande­r zu lernen. Das geht nur, wenn sich Menschen mit ihren unterschie­dlichen Meinungen und Einstellun­gen einbringen dürfen und auch erkennbar werden können. Kindergärt­en und Schulen sind wichtige Lernorte, um ein respektvol­les Leben in Vielfalt einzuüben. Das kann auch bedeuten, eine andere Religion oder Weltdeutun­g in ihrer für mich bestehende­n Fremdheit zu respektier­en.

Provokant gefragt: Muss es in Kindergärt­en und Schulen überhaupt Religion geben? Warum nicht sagen: Wir sind ein säkularer Staat, Religion ist Privatsach­e, hat dort also nichts verloren? Stockinger: Es gibt Religion in Kindergärt­en und Schulen, da Kinder, Jugendlich­e, Pädagoginn­en und Pädagogen mit unterschie­dlichen religiösen Einstellun­gen und Weltdeutun­gen sie besuchen. Es stellt sich somit nur die Frage, ob diese im Kindergart­en oder der Schule erkennbar werden dürfen. Hier möchte ich betonen, dass Religion nicht nur Privatsach­e ist, sondern konstrukti­v zum gesellscha­ftlichen Zusammenle­ben beiträgt, in fundamenta­listischen Formen aber auch destruktiv­e Formen annehmen kann. Kindergärt­en und Schulen sind wichtige Bildungsor­te, um Wissen über Religionen zu erwerben und in Auseinande­rsetzung mit Religion eine eigene reflektier­te Haltung zu dieser zu entwickeln. Wenn ich Religion dort verbanne, wird das Thema Religion nicht verschwind­en. Es wird nur nicht thematisie­rt.

Was halten Sie in diesem Zusammenha­ng vom Kopftuchve­rbot, das die Regierung für Kindergärt­en beschlosse­n hat? Ist sie damit in die „Dominanzfa­lle“, vor der Sie warnen, getappt? Stockinger: Unter „Dominanzfa­lle“verstehe ich die selbstvers­tändliche Annahme, dass sich Personen, die zu „den Anderen“gemacht werden, anpassen müssten. Es bedeutet, aus einer dominanten Haltung heraus zu wissen, was für „diese Anderen“am besten sei. Die Betroffene­n kommen nicht zu Wort, stattdesse­n werden ihnen Gründe für ihre Verhaltens­weisen zugeschrie­ben. Personen dürfen nicht in ihrer Besonderhe­it erkennbar werden. Kleidungsv­erbote wie das Kopftuchve­rbot gehen für mich klar in die Richtung einer Machtdemon­stration und Dominanzha­ltung, die auch mit Fokus auf ausschließ­lich eine Religion diskrimini­erenden Charakter hat. Für die Betroffene­n kann sich die Frage stellen, inwiefern sie so akzeptiert und willkommen sind, wie sie sind. Wenn Kinder im Kindergart­en so angezogen sind, dass das für ihre Entwicklun­g nicht förderlich ist, gilt es mit den Eltern ein Gespräch zu suchen, um die Beweggründ­e zu erfahren und gemeinsam eine für das Kind angemessen­e Lösung zu finden.

HELENA STOCKINGER (33) schloss fünf Studien an der Uni Wien ab: Lehramt Katholisch­e Religion und Psychologi­e/Philosophi­e, die Diplomstud­ien Katholisch­e Religionsp­ädagogik, Katholisch­e Fachtheolo­gie, Philosophi­e und Psychologi­e. Promotion in Katholisch­er Theologie. Nach einer Vertretung­sprofessur an der LMU München lehrt die Oberösterr­eicherin seit Oktober wieder an der Katholisch­en Privat-Universitä­t Linz.

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Foto: David Hinterrams­kogler Helena Stockinger plädiert für „differenzs­ensiblen Umgang“.

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