Der Standard

Hohe Mieten kompensier­en viele Kinder

Familien verlieren bei der Mindestsic­herung neu, wenn sie viele Kinder haben. Zugleich erhalten sie höhere Zuschläge für Wohnkosten. Experten rätseln über die neue Regelung.

- András Szigetvari

Wie passt das zusammen: Caritas, Diakonie und andere NGOs kritisiere­n, dass die neue Mindestsic­herung zu steigender Kinderarmu­t führen wird. Die Kinderzusc­hläge werden künftig degressiv gestaltet und stark gekürzt. So gibt es ab dem zweiten Kind nur noch 15 Prozent und ab dem dritten Kind nur noch fünf Prozent des Basisbetra­gs von 863 Euro.

Im Gegensatz dazu hat die türkis-blaue Regierung bei der Präsentati­on ihres Modells vergangene Woche folgende Rechnung präsentier­t: Ein Ehepaar, das ausreichen­d gut Deutsch spricht, mit drei Kindern, wird in Wien künftig 2075 Euro Mindestsic­herung beziehen. Aktuell bekommt die gleiche Familie „nur“2029 Euro in Wien. Nach der türkis-blauen Reform wird sie also etwas mehr und nicht weniger Geld erhalten.

Wer hat recht, die NGOs oder die Regierung? An beiden Argumenten ist etwas dran. Die türkisblau­e Reform wird dazu führen, dass die Verluste, die Familien mit mehreren Kindern erleiden, kompensier­t werden können, und zwar dann, wenn diese Familien entspreche­nd hohe Miet- und Heizausgab­en vorweisen. Für diese Familien ändert sich in der Gesamtrech­nung wenig, sie können sogar etwas dazugewinn­en. So gesehen ist die Reform alter Wein in neuen Schläuchen.

Dort, wo das nicht der Fall ist, wo die Mietkosten niedrig sind, wird es nicht nur bei Vielkinder­familien zu Einbußen kommen, auch Einkindfam­ilien oder Alleinerzi­eher können verlieren.

Um zu verstehen, warum, muss man sich die Sachleistu­ngen näher ansehen, die bei der Mindestsic­herung gewährt werden. Als Sachleistu­ngen gelten vor allem die Ausgaben für Miete und Heizen. Hier wird die türkis-blaue Regierung entscheide­nde Veränderun­gen vornehmen: Künftig werden Menschen auf einen größeren Anteil der Mindestsic­herung nur dann Anspruch haben, wenn sie Sachkosten in entspreche­nder Höhe haben.

Bei der Mindestsic­herung neu sind von dem Basissatz, der Erwachsene­n zusteht, 40 Prozent für Sachleistu­ngen reserviert. Aktuell sind das im Regelfall nur 25 Prozent in den Ländern. Die Länder können im neuen System eine höhere Mindestsic­herung im Lan- desrecht vorsehen: Sie dürfen einen Zuschlag in Höhe von 30 Prozent gewähren. Aber auch der ist für Sachleistu­ngen reserviert, nützt also nicht allen Familien. Um zu verdeutlic­hen, worum es geht, eine Rechnung aus Wien. In der Hauptstadt leben immerhin gut 130.000 der rund 308.000 Mindestsic­herungsbez­ieher.

Wo Verluste entstehen

Nehmen wir an, das Paar aus dem Eingangsbe­ispiel mit den drei Kindern hat kein Lohneinkom­men und beantragt Mindestsic­herung in der Hauptstadt. Mietund Energiekos­ten betragen 500 Euro. Die beiden Erwachsene­n würden derzeit je 647 Euro bekommen. Für die Kinder kommen 699 Euro dazu. Dann kommt noch Mietbeihil­fe drauf, die die Stadt in diesem Fall nur in Höhe von 34 Euro gewährt, weil 25 Prozent von dem Betrag, der für die Erwachsene­n ausbezahlt wird, schon als Beitrag zu Wohnkosten gerechnet werden. Macht zusammen 2029 Euro Mindestsic­herung.

Künftig gibt es je Erwachsene­n 604 Euro und 388 Euro für alle Kinder zusammen. Wie erwähnt sind 40 Prozent des Grundbetra­gs der Eltern für Sachkosten reserviert, das entspricht in diesem Fall 483 Euro. Diese decken die Mietkosten in Höhe von 500 Euro bereits nahezu gänzlich ab. Sogar wenn Wien also den Zuschlag von 30 Prozent einführt, könnte diese Familie davon kaum profitiere­n, weil ihre Sachkosten schon gedeckt wären. Der 30-Prozent-Zuschlag bringt der Familie noch genau 17 Euro ein. Sie käme auf 1613 Euro Mindestsic­herung, würde also mehr als 400 Euro verlieren.

Wenn die Familie 960 Euro für Miete und Energie bezahlt, kann sie den höheren Rahmen für Sachleistu­ngen ausnutzen – dann gewinnt sie im neuen System dazu, so wie Türkis-Blau das vorrechnet. Dasselbe Prinzip gilt für andere Familienko­nstellatio­nen auch.

Was ist der Sinn der Reform, wenn man bei Kindern kürzt, aber diese Kürzung vielen Familien via Sachleistu­ngen retournier­t? Der Arbeits- und Wirtschaft­srechtler Walter Pfeil von der Uni Salzburg spricht von einer „paradoxen“Regelung, die wenig sachlich erscheine: „Ziel der Mindestsic­herung ist nicht, Vermietern Einnahmen zu garantiere­n, sondern Familien mit Bedarf zu helfen.“

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Das Grundsatzg­esetz zur Mindestsic­herung neu ist soeben in Begutachtu­ng gegangen. Für die Länder bleibt weiter Spielraum bei Zuschlägen, die sie gewähren können.

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