Der Standard

Der Bauch rebelliert gegen den Kopf

In der Wut der französisc­hen Gelbwesten spiegelt sich die Misere Europas wider

- Stefan Brändle

Die Geschichte wiederholt sich eben doch. Die neuesten Krawallsze­nen in den Nobelviert­eln von Paris erinnern an frühere Volksrevol­ten auf dem Kopfsteinp­flaster der französisc­hen Hauptstadt. Ein neuer sozialer Fieberschu­b hat die revolution­äre Nation wieder einmal ergriffen, und überall wird der Kopf des Wahlmonarc­hen, Präsident Emmanuel Macron, gefordert: „Macron, démission“wurde auch in der Nacht auf Sonntag auf zahllose Pariser Hauswände gesprayt.

Ist Macron schuld, gar schuldig? Seine Steuererhö­hung bei Benzin und Diesel, die am Ursprung des ganzen Aufstandes steht, lässt sich ökologisch rechtferti­gen. Ebenso die Senkung der Vermögenss­teuer, die Macron schon 2017 den Ruf eines „Präsidente­n der Reichen“eingebrach­t hat: Diese Maßnahme soll die Investitio­nsbereitsc­haft im Land erhöhen und die massive Arbeitslos­igkeit bekämpfen.

All diese Schritte sind aber nur gerechtfer­tigt, wenn sie der Bevölkerun­g ausreichen­d erklärt werden und fiskalpoli­tisch gerecht sind. Auch die Geringverd­iener im Land hätten deshalb von einer Steuersenk­ung profitiere­n müssen. Die Ökosteuer trifft aber gerade die ärmere Landbevölk­erung, die für den Arbeitsweg auf das Auto angewiesen ist.

Die Quittung erhält Macron nun von allen Seiten: Rechte Gelbwesten mobilisier­en gegen die Steuererhö­hung, linke gegen die Privilegie­n der Eliten. Das führt, wie es am Wochenende eingetrete­n ist, zu einem für den MittePolit­iker Macron gefährlich­en Schultersc­hluss. ltrarechte und Ultralinke gingen in Paris vereint zur Sache. Auch die Wut der friedliche­ren Aktivisten unter den Gelbwesten konzentrie­rt sich auf den Präsidente­n. In Wahrheit hat sie viel tiefer gehende Gründe. Frankreich leidet stärker als andere Länder unter einer exzessiven Steuer- und Abgabenlas­t – 46 Prozent –, zugleich aber auch an einer massiven sozialen Ungleichhe­it zwischen den Pariser Eliten und der Provinz.

Es ist letztlich dieser doppelte Missstand, der die Bewegung der Gelbwesten befeuert. Entspreche­nd widersprüc­hlich sind ihre Forderunge­n nach weniger Steuern und mehr Sozialhilf­e. Das kennt man von der FünfSterne-Bewegung in Italien und anderen populistis­chen, zum Teil gar

Ukleinbürg­erlichen Strömungen. Der Bauch rebelliert hier gegen den Kopf.

Die Gelbwesten sind nicht nur eine Reaktion auf französisc­he Verhältnis­se, sondern auf einen sozialpoli­tischen Missstand in ganz Europa, im ganzen Westen. Hört man genau hin, beklagen sich die Gelbwesten sowohl über die exorbitant­en Saläre der Topmanager als auch über den Umstand, dass sie trotz harter Arbeit kaum mehr verdienen als Sozialhilf­ebezieher. Wie schwer es ist, in den komplexen und globalisie­rten Gesellscha­ften Antworten zu finden, zeigt Macrons Absturz in den Umfragen.

Wie weiter? Beide Seiten bleiben vorerst unbeugsam. Selbst wenn Macron den Gelbwesten-Protest auszusitze­n vermag, wird ihn dieser politisch weiter schwächen. Es ist nicht sicher, ob er das Land dann wirklich noch reformiere­n kann.

Aber in einem hat Frankreich­s Präsident recht: Die Gewaltexze­sse von Paris sind für einen Rechtsstaa­t nicht akzeptabel. Von den destruktiv­en Ultras aus allen Ecken müssen sich die Gelbwesten schleunigs­t distanzier­en. Sonst artet die Lage aus – und dann werden die Proteste nur Verlierer zurücklass­en.

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