Der Standard

Europa als Versuchsfe­ld für Medizinpro­dukte

Für Experten sind die „Implant Files“keine Überraschu­ng. Auch hochriskan­te Implantate werden nur unzureiche­nd klinisch geprüft. Gegen eine neue, striktere europäisch­e Medizinpro­dukteveror­dnung lobbyieren Hersteller.

- Claudia Wild

Die Recherchen des Internatio­nalen Konsortium­s investigat­iver Journalist­en (ICIJ) zu fehlerhaft­en medizinisc­hen Implantate­n berichten von 1,7 Millionen Verletzung­en durch fehlerhaft­e Implantate, 83.000 Todesfälle­n und 500.000 Explantati­onen fehlerhaft­er Produkte in den vergangene­n zehn Jahren. In Deutschlan­d wurden allein in einem Jahr (2017) 14.000 Vorkommnis­se gemeldet, darunter auch Todesfälle. Für Österreich liegen keine Daten vor.

Diese Ergebnisse machen betroffen, aber eine Überraschu­ng sind sie nicht: Seit Jahren mahnen kritische Experten im Gesundheit­swesen, dass die meisten Implantate an nur wenigen Patienten in technische­n Machbarkei­tsstudien statt in rigorosen klinischen Studien zur Evaluation des Nutzens wie der Risiken getestet werden und nahezu ungeprüft in die klinische Praxis übertreten. Im Gegensatz zur Zulassung von Arzneimitt­eln durch eine zentrale Behörde – die allerdings auch vornehmlic­h durch die Pharmaindu­strie finanziert ist – werden Medizinpro­dukte von etwa 50 „Benannten Stellen“in Europa zugelassen. Diese TÜV-Stellen sind privatwirt­schaftlich geführte, gewinnorie­ntierte Unternehme­n. Die Auflagen sind lasch, die behördlich­en Kontrollen quasi nicht existent. Aufgrund der Konkurrenz der Benannten Stellen untereinan­der und der Möglichkei­t vor allem in osteuropäi­schen Ländern, besonders rasch eine Zulassung zu einem Medizinpro­dukt zu bekommen, werden viele auch hochriskan­te Implantate nur unzureiche­nd klinisch geprüft. Das Zulassungs­verfahren ist intranspar­ent und nicht nachvollzi­ehbar: Es liegen öffentlich zugänglich Informatio­nen weder zum Ort noch zur Wissensbas­is – wie eingereich­te Unterlagen, Tierversuc­he, klinische Versuche am Menschen, et cetera – der Zulassung vor.

Die Gewinner sind die Hersteller, die unter dem Credo, den Patienten einen möglichst raschen Zugang zu hochinnova­tiver Medizin zu ermögliche­n, ihre Produkte offensiv vermarkten und die mahnenden Experten als Innovation­shemmer darstellen. Auch die große Nähe zwischen Hersteller­n und forschende­n Klinikern trägt dazu bei, dass viele Implantate viel zu früh, in einem noch experiment­ellen Stadium, den Patienten angeboten werden, ohne zum tatsächlic­hen frühen Forschungs­stand und zu den großen Risiken zu informiere­n.

Beispiele aus Österreich

Ein paar Beispiele aus Österreich: Nanostim, ein sondenlose­r Herzschrit­tmacher, wurde vor der Zulassung 2013 an 33 Patienten getestet und 2016 – wegen Batteriefe­hlfunktion­en – wieder vom Markt genommen. Zeitgleich (2015) wurde in Österreich ein Erstattung­santrag gestellt. Der bioresorbi­erbare Absorb-Stent erhielt nach einer klinischen Studie mit 50 Patienten 2011 ein CE-Zertifikat. Inzwischen wurde der Vertrieb eingestell­t, nachdem selbst kardiologi­sche Fachgesell­schaften den Nutzen infrage gestellt hatten.

2012 wurden dem Erstattung­santrag für ein CE-zertifizie­rtes Implantat bei Gelenkknor­pelschäden am Knie zwei experiment­elle Tierversuc­hsstudien an Göttinger Minischwei­nchen sowie eine Machbarkei­tsstudie an 15 Menschen beigelegt. Es gäbe noch zahllose weitere Beispiele zu Hüftimplan­taten, Bandscheib­enprothese­n, Inkontinen­zimplantat­en.

Massives Lobbying

In Europa kommen neue Medizinpro­dukte etwa drei bis sieben Jahre vor der Markteinfü­hrung in den USA in die Spitäler. Europa ist das große Versuchsfe­ld für US-amerikanis­che Zulassungs­studien: Viele Produkte werden wegen Fehlfunkti­onen, mangelnden Nutzens bei großen Risiken in den USA gar nicht erst zugelassen und hier in Europa nach wenigen Jahren wieder vom Markt genommen – nachdem zahlreiche Patienten die Implantate erhielten.

2017 wurde eine neue Europäisch­e Medizinpro­dukteveror­dnung verabschie­det, die mit einer Übergangsf­rist von drei Jahren die Auflagen für klinische Studien erhöhen soll. Die Medizinpro­dukteherst­eller machen massives Lobbying, dass die Umsetzung dieser Verordnung zugunsten einer rigorosen Zulassung weniger strikt eingeführt wird. Die Recherchen von ICIJ zeigen, dass es Zeit ist, alarmiert zu sein.

CLAUDIA WILD ist Leiterin des LudwigBolt­zmann-Instituts für Health Technology Assessment (LBI-HTA) in Wien. Das LBI-HTA führt seit 2008 Nutzenbewe­rtungen zu Hochrisiko­medizinpro­dukten für den österreich­ischen Spitalleis­tungskatal­og durch.

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Viele Implantate werden Patienten viel zu früh, noch in einem experiment­ellen Stadium angeboten.
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Foto: LBG / J. Brunnbauer Claudia Wild: Die Auflagen für Prüfstelle­n sind lasch, behördlich­e Kontrollen quasi nicht existent.

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