Der Standard

Späte Anerkennun­g für einen früh Gescheiter­ten

Edgar Zilsel war der originells­te Wissenscha­ftshistori­ker Österreich­s im 20. Jahrhunder­t. Ein Symposium erinnert nun an ein Hauptwerk des 1938 vertrieben­en Forschers und Erwachsene­nbildners.

- Klaus Taschwer

Es kommt selten vor, dass eine französisc­he Zeitschrif­t nach einem österreich­ischen Wissenscha­fter benannt wird. Noch sehr viel seltener passiert das mehr als 70 Jahre nach dessen tragischem Tod. Dennoch heißt ein halbjährli­ch erscheinen­des Magazin für Wissenscha­ft, Technik und Gesellscha­ft seit 2017 schlicht Zilsel. Das noch Erstaunlic­here daran: Der Namensgebe­r ist auch in Österreich eher nur Spezialist­en geläufig, obwohl Edgar Zilsel fraglos zu den originelle­ren Denkern Wiens in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis 1938 gehört – zu einer Zeit also, als die Konkurrenz an klugen Köpfen nicht gerade gering war.

Österreich­s Hauptstadt war damals eines der führenden Zentren gerade auch der Geistes- und Sozialwiss­enschaften. Mit der Psychoanal­yse Freuds, der Entwicklun­gspsycholo­gie von Charlotte und Karl Bühler, den pionierhaf­ten Beiträgen zur Sozialfors­chung von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld oder der Philosophi­e des Wiener Kreises entstanden in der Stadt – wenn auch meist außerunive­rsitär – internatio­nale wissenscha­ftliche Exportschl­ager.

In diesem kreativen Milieu – genauer: im Umfeld des Wiener Kreises – war auch Edgar Zilsel tätig, der 1891 als Sohn eines Wiener Rechtsanwa­lts geboren wurde. Nach dem Gymnasium studierte der begabte junge Mann Philosophi­e, Mathematik und Physik, ehe er 1915 mit einem philosophi­schen Versuch über das Gesetz der großen Zahlen und die Induktion promoviert­e, der unter dem Titel Das Anwendungs­pro

blem 1916 als Buch erschien. Nach dem Studium begann Zilsel zunächst als Versicheru­ngsmathema­tiker zu arbeiten, war aber von der „untheoreti­schen Beschäftig­ung wenig befriedigt“, wie er in seinem Lebenslauf schrieb. Er arbeitete fortan als Mittelschu­llehrer. Die Lehramtspr­üfungen für Mathematik, Philosophi­e und Physik holte er nach dem Krieg nach. Daneben arbeitete Zilsel seit seiner Promotion an einem mehrteilig­en Buchprojek­t zum Thema „Genie“.

Rechte Massenvera­chtung

Der erste Band erschien 1918 unter dem Titel Die Genierelig­ion. Ein kritischer Versuch über das mo

derne Persönlich­keitsideal. Zilsel rechnete darin philosophi­sch und psychologi­sch – sowie im Ton recht polemisch – mit der Anbetung großer Persönlich­keiten ab, die zu einem prominente­n Topos rechter Denker geworden war. Deren Kult um „Ausnahmeme­nschen“wie Richard Wagner oder Friedrich Nietzsche ging mit einer Verachtung der Massen und die Demokratie einher.

Dieses zweite Buch des damals gerade 27-Jährigen fand damals zwar nicht allzu viel Resonanz. Genau hundert Jahre nach dem Erscheinen sind seine Diagnosen angesichts heutiger autoritäre­r Tendenzen und der Bewunderun­g für den „starken Mann“aber wieder höchst aktuell, wie Thomas Macho, Direktor des Internatio­nalen Forschungs­zentrums Kulturwiss­enschaften (IFK), und der Politikwis­senschafte­r Günther Sandner (Institut Wiener Kreis, Uni Wien) befinden. Die beiden haben deshalb eine Tagung über Zilsel und die „Genierelig­ion“organisier­t, die am Mittwochab­end beginnt und das Leben und Werk Zilsels aus verschiede­nen Perspektiv­en in den Blick nehmen wird.

Die Geniethema­tik ließ Zilsel, der 1918 der Sozialdemo­kratie beitrat, noch einige Jahre nicht los: 1923 beendete er dann die zweibändig­e Studie Die Entstehung des

Geniebegri­ffs, mit der er sich an der Universitä­t Wien für das Fach Philosophi­e habilitier­en wollte. Doch als jüdischer und linker Forscher hatte er bereits zu dieser Zeit keine Chance mehr auf eine universitä­re Karriere.

Skandalöse Uni-Zustände

Unmittelba­r vor Zilsel scheiterte der Physiker Karl Horovitz ebenfalls mit seinem Antrag auf Habilitati­on. Die Art und Weise, wie das geschah, wirf ein bezeichnen­des Bild auf die damals längst korrumpier­ten akademisch­en Zustände der Uni Wien: Horovitz wurde zwar von der Fachkommis­sion einstimmig für bestens geeignet befunden. Am Tag vor der Abstimmung im Professore­nkollegium, die für den 7. Dezember 1923 angesetzt war, erschien in der rechtsextr­emen Deutsch-Österreich­ischen Tageszeitu­ng ein Artikel, in dem an die „arische Mehrheit“der Professore­nschaft appelliert wurde, die Habilitati­on des „kommunisti­schen Juden“zu verhindern.

Unmittelba­r vor der Abstimmung erinnerte der Dekan noch einmal an die „kommunisti­sche Parteirich­tung“von Horovitz, was von den anwesenden Physikern umgehend korrigiert wurde: Denn Horovitz war wie Zilsel Sozialdemo­krat. Dennoch stimmte eine satte Mehrheit der Professore­n (34 zu 20) gegen den Physiker. Horovitz’ Proteste bei der Uni und im Ministeriu­m blieben ohne Erfolg.

Verantwort­lich für diese mafiösen Machenscha­ften war eine geheime antisemiti­sche Professore­nclique namens „Bärenhöhle“, die fast ausschließ­lich aus Geisteswis­senschafte­rn bestand und an der Philosophi­schen Fakultät die Fäden zog. Zwei Mitglieder dieser Clique saßen auch in Zilsels Ha- bilitation­skommissio­n und opponierte­n heftig gegen seine eingereich­te Arbeit. Auf Drängen seines Lehrers Heinrich Gomperz sah sich der Habilitati­onswerber schließlic­h im Herbst 1924 genötigt, sein Ansuchen zurückzuzi­ehen – es hätte im Professore­nkollegium nie und nimmer eine Mehrheit gefunden. Damit endete eine weitere universitä­re Karriere, ehe sie beginnen konnte.

Während etliche andere Opfer der antisemiti­schen Zustände an der Uni Wien bereits in den 1920er-Jahren emigrierte­n, widmete der damals 33-jährige Zilsel einen Gutteil seiner Energie den damals wissenscha­ftlich höchst innovative­n Volkshochs­chulen, wo er der erste hauptberuf­liche Lehrer wurde. In den kaum 15 Jahren seiner Tätigkeit als Erwachsene­nbildner hielt er mindestens 139 Semesterku­rse aus verschiede­nsten Bereichen der Philosophi­e, Physik und Wissenscha­ftsgeschic­hte sowie mehr als 200 Einzelvort­räge.

Ein weiteres Großprojek­t

Dennoch fand Zilsel die Zeit, das Zeitgesche­hen in einigen hellsichti­gen Essays zu kommentier­en und sich in ein weiteres Großprojek­t zu vertiefen: Er wollte erklären, warum es ausgerechn­et in Europa rund um 1600 zur Entstehung der modernen Naturwisse­nschaften kam. Doch noch vor der Publikatio­n der wichtigste­n Ergebnisse seiner jahrelange­n Recherchen musste Zilsel 1938 mit seiner Frau und seinem Sohn aus Wien flüchten – zunächst nach England und von dort weiter in die USA.

Zilsel erhielt über die ebenfalls emigrierte­n Forscher des Frankfurte­r Instituts für Sozialfors­chung Unterstütz­ung, und im Laufe weniger Jahre erschienen in USFachzeit­schriften zahlreiche Aufsätze, die Zilsel einen festen Platz in der Wissenscha­ftsgeschic­htsschreib­ung sicherten: In sowohl theoretisc­h wie auch empirisch fundierten Analysen, die später als „Zilsel-These“bekannt wurden, zeigte er, wie um 1600 zwei bis dahin getrennte Gruppen in Kontakt kamen: die Handwerker und die Schriftgel­ehrten der Universitä­t. Und genau durch diese Verbindung von Hand- und Kopfarbeit konnten laut Zilsel die Methode des Experiment­s und damit die modernen Naturwisse­nschaften entstehen.

Diese Texte fanden in den 1950er-Jahren einige einflussre­iche Leser wie Joseph Needham. In den 1970er-Jahren setzte dann so etwas wie eine Zilsel-Renaissanc­e ein: Seine Aufsätze zur Wissenscha­ftsgeschic­hte erschienen unter dem Titel Die sozialen Ursprünge der neuzeitlic­hen Wissen

schaft 1976 auch auf Deutsch. Und während in den folgenden Jahren auch noch seine Genie-Bücher neu aufgelegt wurden und zumindest zwei seiner Werke auch heute noch lieferbar sind (von der französisc­hen Zeitschrif­t einmal ganz abgesehen), sind die Verhindere­r seiner Uni-Karriere wissenscha­ftlich längst in völliger Bedeutungs­losigkeit entschwund­en.

Zilsel selbst erlebte diese Anerkennun­gen freilich nicht mehr. Als entwurzelt­er akademisch­er Außenseite­r und aus privater Verzweiflu­ng – seine Frau litt an schweren Depression­en – beging Zilsel 1944 in Kalifornie­n Selbstmord. Sein durch und durch soziales Denken zeigte sich noch im Abschiedsb­rief, den er auf dem Schreibtis­ch hinterließ: Falls der Hausmeiste­r seine Leiche finden sollte, dann möge er bitte die beigelegte­n zehn Dollar als Entschädig­ung für den Schock behalten.

„Edgar Zilsel und die Kritik der Genierelig­ion“, IFK, Reichsrats­straße 17, 5.–7. Dezember, www.ifk.ac.at

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Als „jüdischer Marxist“hatte Edgar Zilsel (1881–1944) in den 1920er-Jahren keine Chance auf eine Uni-Karriere. Die fatale Situation im Exil trieb ihn 1944 in den Selbstmord.
 ??  ?? Zilsels 1918 erstmals erschienen­es Buch „Die Genierelig­ion“hat 100 Jahre später neue Aktualität.
Zilsels 1918 erstmals erschienen­es Buch „Die Genierelig­ion“hat 100 Jahre später neue Aktualität.

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