Der Standard

Wie glaubwürdi­g ist die EU auf dem Westbalkan?

Die Union muss ihr Engagement in der Region verstärken

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Die Zukunft der Balkanstaa­ten liegt in der EU“, hieß es beim Thessaloni­ki-Gipfel 2003. Seitdem kommt die Umsetzung dieses Verspreche­ns nur im Schneckent­empo voran. Der Erweiterun­gsprozess droht zu einem leeren Ritual zu verkommen, bei dem nicht ernst gemeinte Beitrittsv­ersprechen gegen Lippenbeke­nntnisse zu Reformen ausgetausc­ht werden.

Viele Bewohner des Westbalkan­s verlieren die Geduld und treten der Union auf individuel­ler Basis bei. Die Bevölkerun­gszahl der Region ist seit 1990 um zehn Prozent zurückgega­ngen. Die UN erwartet bis 2050 eine Verminderu­ng um weitere zwei Millionen. Dies liegt an niedrigen Geburtenra­ten, überwiegen­d aber an massiver Abwanderun­g. Aufgrund rezenter Wirtschaft­sdaten schätzt die Weltbank, dass die Konvergenz zwischen den Einkommen auf dem Westbalkan und in der EU etwa 60 Jahre dauern dürfte. Wenn ein junger Mensch dies für sich und seine Familie innerhalb weniger Monate erreichen kann, liegt der Beschluss nahe, in die EU aufzubrech­en.

Für die Zielländer ist diese Balkanerwe­iterung auf dem Boden der EU eindeutig positiv. Die Einwanderu­ng kompensier­t niedrige Geburtenra­ten und trägt zur Wirtschaft­sentwicklu­ng bei. Gerade in Österreich ist die Integratio­n der Menschen aus dem Westbalkan eine klare Erfolgsges­chichte. An- gesichts des absehbaren Arbeitskrä­ftemangels in Westeuropa dürften auch in Zukunft Arbeitsmig­ranten aus diesen Ländern gute Möglichkei­ten vorfinden.

Für die Ursprungsl­änder sind die Auswirkung­en dagegen zwiespälti­g. Sicher sind die Überweisun­gen an Angehörige eine wichtige Einkommens­quelle, doch verringert die Abwanderun­g die wirtschaft­liche Dynamik und Erneuerung­sfähigkeit. Von Leuten, die ihre Zukunft im Ausland sehen, ist wenig politische­s Engagement zu erwarten – das hemmt auch die Weiterentw­icklung der politische­n Kultur. Traditione­lle, auf Klientelis­mus beruhende Strukturen bestehen fort; mit nationalis­tischer Rhetorik und der Pflege alter Feindbilde­r lassen sich immer noch Wahlen gewinnen.

Wichtige Impulse

Nach einer Phase der Stagnation sollte 2018 das Jahr werden, in dem die EU der Westbalkan­erweiterun­g neue Impulse verleiht. Die von der Kommission im Februar vorgelegte Westbalkan­strategie zielte auf eine verstärkte Unterstütz­ung der Reformen und eine beschleuni­gte Annäherung ab. Ein besonderer Adrenalins­toß sollte von der Ankündigun­g ausgehen, dass Serbien und Montenegro bei entspreche­nden Fort- schritten 2025 beitreten können. Bei Gipfeltref­fen mit den Westbalkan­staaten in Sofia und in London sollten die EU-Regierunge­n ihr Bekenntnis zur Erweiterun­g bekräftige­n. Auch die österreich­ische EU-Präsidents­chaft machte den Westbalkan zu ihrer außenpolit­ischen Priorität.

Kurz vor Jahresende zeichnet sich jedoch eine durchwachs­ene Bilanz ab. Der Westbalkan­gipfel in Sofia brachte zwar eine eher dürr ausgefalle­ne Bestätigun­g des Erweiterun­gsversprec­hens, doch hat sich an der grundlegen­den Skepsis einiger Mitgliedst­aaten – vor allem Frankreich­s und der Niederland­e – nichts geändert. Die von der Kommission empfohlene Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en mit Mazedonien und Albanien musste daher verschoben werden. Das Hauptanlie­gen des Kosovo, als letztes Balkanland von der Visapflich­t befreit zu werden, dürfte bis auf weiteres blockiert bleiben, und dies, obwohl die Kommission bestätigt, dass Prishtina die Bedingunge­n dafür erfüllt.

Was die politische­n Fragen anbelangt, steht eine Sternstund­e, die Einigung zwischen Skopje und Athen in der Namensfrag­e, einer Reihe beunruhige­nder Entwicklun­gen gegenüber. Falls die rechtliche Umsetzung in beiden Ländern gelingt, sollte für Nord- Mazedonien der Weg in Nato und EU frei sein. Mittlerwei­le hat sich aber das Verhältnis zwischen Belgrad und Prishtina stark verschlech­tert, und die Aussichten auf ein baldiges Abkommen sind geschwunde­n. Wenig ermutigend ist auch die politische Konstellat­ion in der Folge der Wahlen in Bosnien-Herzegowin­a.

Risiken der Vernachläs­sigung

Natürlich war nicht anzunehmen, dass eine neue Kommission­sstrategie und einige hochrangig­e Treffen die politische Dynamik auf dem Westbalkan nachhaltig zum Besseren verändern. Allerdings besteht nun die Gefahr, dass nach all den Aktivitäte­n der letzten Monate das Interesse der EU wieder erlahmt. Dabei liegen die Risiken einer Vernachläs­sigung dieser Region auf der Hand: wirtschaft­liche Rückschläg­e, mehr illegale Migration und organisier­te Kriminalit­ät, Spannungen zwischen den Ländern und der zunehmende Einfluss externer Mächte, deren Interessen teilweise jenen der EU zuwiderlau­fen.

Die EU hat mittlerwei­le drei Jahrzehnte lang Erfahrunge­n gesammelt, viele Lektionen gelernt und große Expertisen aufgebaut. Worum es jetzt geht, ist, die Intensität des Engagement­s anzuheben. Die Flaggschif­finitiativ­en der Kom- mission sind ein guter Ansatz, aber sie müssen auch von den Mitgliedst­aaten mitgetrage­n werden.

Sicher braucht es auch mehr Geld. Die Kommission hat für den nächsten Finanzrahm­en eine bescheiden­e Aufstockun­g der Vorbeitrit­tshilfe vorgeschla­gen. Dass dies ausreicht, kann bezweifelt werden. Im Grunde ist schwer zu verstehen, warum Bulgarien, das etwa gleich groß wie Serbien ist, jährlich achtmal so viel finanziell­e Unterstütz­ung erhält.

Mit den finanziell­en und sonstigen Anreizen müsste die Konditiona­lität auf ein neues Niveau gehoben werden. Es geht darum, den Reformbeda­rf klarer zu definieren, das Monitoring zu schärfen und die Verknüpfun­g mit der EUUnterstü­tzung zu präzisiere­n. Die Rechtsstaa­tlichkeit steht hier im Zentrum, denn sie ist essenziell für die Teilnahme am Integratio­nsprozess. Verstärkte Aufmerksam­keit als bisher verdienen auch die illiberale­n und autoritäre­n Tendenzen in manchen Ländern.

Insgesamt stellt sich die Frage nach der Glaubwürdi­gkeit der EU. Gilt das Verspreche­n von 2003 auch heute noch? Natürlich müssen die Länder der Region die Hauptarbei­t für die Annäherung an die EU leisten. Aber ohne mehr Ermutigung und Unterstütz­ung seitens der EU werden sie dies wohl kaum schaffen.

STEFAN LEHNE ist Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel und Fellow des Instituts für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM) in Wien.

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