Heute Italien und morgen die ganze Welt
Mailänder Scala eröffnet Saison mit Verdis „Attila“
Zellverfall sind die hartnäckigen Heimsuchungen eines sozial äußerst fein abgestuften Elends. Und auch die Reichen bleiben vor den Zumutungen der Zeitlichkeit in keiner Weise gefeit.
Nie hat António Lobo Antunes das Durcheinanderwispern seiner Figuren virtuoser komponiert als in Vom Wesen der Götter. Wie lauter kleine Marcel-ProustMadeleines fungiert eine Reihe von Motivwörtern und bildet einen Satz Schlüssel an einem Bund. Jeder von ihnen verschafft Zugang zu einem verschütteten Kindheitsland. Es handelt sich um „Duftrosen“, um einen „Obdachlosen“, der als Sendbote des Himmels unerkannt durch Cascais huscht.
Die Prosa dieses Meisters einer konsequent weiterentwickelten Moderne war niemals ernster und zugleich filigraner. Portugals Erbsünde ist nicht nur die Diktatur Salazars, das Fortbestehen des „Estado nuovo“bis zur Nelkenrevolution 1974. Errichtet sind die Spukschlösser der Mächtigen auf dem Untergrund brutaler Kolonialherrschaft. Das Unrecht von Terror und Ausbeutung enthält den Keim einer unsühnbaren Schuld. Und so gehört die eindrucksvollste Stimme im Konzert der Verdammten einer jungen Frau mit afrikanischen Wurzeln: Fatimà, die sich bei der inzwischen ergrauten Tochter des „Senhor Doutor“als regelmäßige Buchlieferantin einstellt.
Fatimà lauscht der letzten Überlebenden eines in Terror verstrickten Landes. Die Duftrosen knistern. Man ertrinkt förmlich im Schwall von Antunes’ Sätzen, die ohne Punkt, nur von Kommata gelenkt, auf einen einbrechen. Man lauscht einem zeitgenössischen Honoré de Balzac. António Lobo Antunes, „Vom Wesen der Götter“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. € 26,80 / 720 Seiten. Luchterhand, München 2018
Noch bevor die Vorstellung mit der italienischen Nationalhymne beginnt, gibt es Standing Ovations, als der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella die üppig dekorierte Königsloge betritt, weit länger als für die einzelnen Künstler später. Die Saisoneröffnung der Mailänder Scala am Tag des Mailänder Stadtheiligen Ambrosius scheint in unruhigen Zeiten mehr denn je ein politischer Akt: „Kultur und Kunst“seien ein „Bollwerk der Demokratie“, erklärt Mattarella in der Pause. Die Aufführung selbst, Verdis „dramma lirico“Attila, kann man durchaus auch als aktuelles politisches Statement missverstehen. Das in der Oper immer wieder vom italienischen Gesandten Ezio an den Hunnenkönig Attila gemachte Verhandlungsangebot – „Du magst das Universum behalten, wenn du mir den Rest Italiens gibst“–, war bereits im 19. Jahrhundert als nationalistische Parole instrumentalisiert worden.
Die bilderreiche, durch Videoinstallationen von D-WOK belebte Inszenierung von David Livermore bleibt relativ beliebig. Einige seiner Einfälle hatte Livermore nach aufgeregten Protesten noch vor der Premiere wieder zurückgenommen. Die Marienstatue wird nun nicht von Hunnen geschändet, auch auf den spektakulären Einsturz einer Brücke wurde nach der Katastrophe von Genua verzichtet.
Vor zerbombter Kulisse
Livermore verlegt das Geschehen in die 1940er-Jahre. Attilas Hunnen erinnern vor einer zerbombten Kulisse meist an die Sowjets in Berlin (Bühne: Giò Forma). Die beiden Pferde, auf die Livermore trotz Tierschützerprotesten nicht verzichten wollte, halten sich brav. Livermore wollte über das Pferd als „Traumbild“Raffaels Gemälde Begegnung Leos des Großen mit Attila zitieren.
Für die Ouvertüre verbot sich Maestro Ricchardo Chailly jede Bebilderung, mit Recht. Denn gerade hier nimmt der weiche Klang des Mailänder Orchesters gefangen, die aufpeitschende Kriegsmusik und die Inseln elegischer Ruhe werden genussvoll ausgekostet. Und doch kann auch Chailly nicht immer ganz vergessen machen, dass Verdis Attila kein Meisterwerk ist und über weite Strecken Klischees bedient. „Ausgesprochen infantil“hatte Peter Konwitschny 2013 in seiner umstrittenen Inszenierung im Theater an der Wien einen Akt übertitelt, in dem er Giuseppe Verdis Oper als banalen Comic vorführte.
Interesse erregt Verdis Attila durch seine widersprüchliche Titelfigur. Der aus der Tatarenrepublik Bahshira stammende Ildar Abdrazakov scheint für ihn eine Idealbesetzung: ein warmer Bass, voll freundlicher Ausstrahlung und intellektueller Nachdenklichkeit. Barsch dagegen in schönem Kontrast sein Gegenbild, George Petean als Italiener Ezio. Fabio Sartori meistert geschmeidig in seiner Romanze im dritten Akt den Liebesschmerz, während Saioa Hernández mit einem geradezu heroisch kalten Ton effektvoll als italienische Gefangene Odabella auf sich aufmerksam machte.
Im Finale lässt sie es sich nicht nehmen, ihren überraschten Bräutigam Attila unmittelbar vor der Hochzeit zu töten. Kein schönes kulturelles Vorbild.