Der Standard

Menschenre­chte – Leuchtturm in der Brandung

Die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte bewahrt Staaten und Gesellscha­ften davor, an den Klippen der Inhumanitä­t zu zerschelle­n. Zur Würdigung eines unschätzba­ren Dokuments.

- Hannes Tretter

945 liegt Europa in Trümmern. Hitlers Holocaust, Stalins Massenmord­e, zahllose Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Kriegsverb­rechen, Millionen Tote, Verwundete und Vertrieben­e in den Köpfen und Seelen der Menschen. Tyrannei und Barbarei, Missachtun­g der Menschenwü­rde, Verfall ethischer und moralische­r Prinzipien wohin das Auge blickte.

Zwei Generation­en

Am 10. Dezember 1948 wird im Palais de Chaillot in Paris von der Generalver­sammlung der im Oktober 1945 ins Leben gerufenen Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte ohne Gegenstimm­en verkündet, gegründet auf den wiedererwe­ckten Ideen der Aufklärung, den Prinzipien der Rechtsstaa­tlichkeit und den im 19. Jahrhunder­t erstritten­en zwei „Generation­en“individuel­ler Rechte.

In 30 Artikeln werden nämlich nicht nur die „klassische­n“politische­n und zivilen Rechte des Liberalism­us, sondern auch die auf dem Sozialismu­s beruhenden sozialen, wirtschaft­lichen und kulturelle­n Rechte garantiert, die für alle Menschen gelten sollen, da diese frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Jeder Mensch hat zudem Anspruch auf eine soziale und internatio­nale Ordnung, in der die in der Erklärung verkündete­n Rechte und Freiheiten verwirklic­ht werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, haben alle Menschen jedoch auch Pflichten gegenüber der Gemeinscha­ft, in der allein die freie und volle Entfaltung ihrer Persönlich­keit möglich ist.

Die Erklärung, wenngleich rechtlich nicht bindend, weil „nur“ein politische­s Dokument, wird dennoch Mutter und Maßstab aller folgenden internatio­nalen und regionalen Menschenre­chtskonven­tionen und -systeme. Welche Bedeutung hat sie in der Folge gewonnen, welche Ausstrahlu­ngswirkung hat sie heute? Wenngleich diese Frage in Wissenscha­ft und Rechtsprax­is nicht abschließe­nd geklärt ist, so ist weitgehend anerkannt, dass bestimmte Rechte der Erklärung zu Völkergewo­hnheitsrec­ht geworden sind oder allgemeine Rechtsgrun­dsätze darstellen. Dies lässt sich damit begründen, dass sie insbesonde­re den rechtsverb­indlichen UN-Menschenre­chtspakten 1966 und u. a. der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion 1950 Pate gestanden ist.

Folgende Rechte zählen dazu: das Recht auf Leben, die Verbote von Folter und Sklaverei, die Anerkennun­g jedes Menschen als Rechtspers­on, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Verbot von Diskrimini­erung, das Verbot willkürlic­her Inhaftieru­ng und das Recht auf ein faires Verfahren. Ich meine, dass auch die „Streitbark­eitsklause­l“des Artikels 30 hinzuzurec­hnen ist, wonach keine Bestimmung dahin ausgelegt werden darf, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigun­g der in dieser Erklärung verkündete­n Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.

Unumstritt­en ist, dass die Erklärung zur Interpreta­tion internatio­nalen, regionalen und nationalen Rechts herangezog­en wird, wenn es um grund- und menschenre­chtliche Fragestell­ungen geht. So gilt sie als verbindlic­he Quelle der Auslegung der menschenre­chtlichen Bestimmung­en der UNCharta 1945 und wird von Höchstgeri­chten weltweit gelegentli­ch zur Auslegung nationalen Rechts herangezog­en, um die Autorität und Legitimitä­t einer Entscheidu­ng mit zu begründen. Beispielsw­eise hat der deutsche Bundesgeri­chtshof, bestätigt durch das Bundesverf­assungsger­icht 1996, in einem zu Mauerschüt­zen und Todesschüs­sen an der innerdeuts­chen Grenze ergangenen Urteil festgehalt­en, dass der Erklärung jedenfalls insofern ein hohes Maß an rechtliche­r Bedeutung zukommt, „als sie den Willen der Völkergeme­inschaft bekunde, Menschenre­chte zu verwirklic­hen, und den Inhalt dieser Menschenre­chte auch erkennbar mache. Angesichts der Exaktheit, mit der die Erklärung das fundamenta­le Recht auf Leben und das Recht auf freie Ausreise definiert habe, könne sie als eine Konkretisi­erung dessen aufgefasst werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüber­zeugung verstanden werde.“

Eine Vielzahl von Verfassung­en weltweit (annähernd 100) wurde seit 1948 von der Erklärung inspiriert. Soweit sich die Erklärung in nationalen Verfassung­en widerspieg­elt, kann sie mit Gewissheit auch als eine Quelle der Inspiratio­n nationaler Gesetzgebu­ng gesehen werden. In Österreich ist dies nicht der Fall, jedoch ist zu bedenken, dass stattdesse­n die von der Erklärung stark beeinfluss­te Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion 1964 in Verfassung­srang gehoben wurde und deren Rechte seitdem als verfassung­sgesetzlic­h gewährleis­tete Rechte gelten, die vor dem Verfassung­sgerichtsh­of unmittelba­r durchgeset­zt werden können.

Eine besondere Bedeutung für die Gegenwart erfährt die Erklärung durch ihre Präambel: Sie stellt fest, dass die Anerkennun­g der angeborene­n Würde und der gleichen und unveräußer­lichen Rechte aller Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigk­eit und Frieden in der Welt bildet und für die anzustrebe­nde Freiheit von Furcht und Not die umfassende Gewährleis­tung aller Rechte nötig ist. Um dieses Ziel zu erreichen, sind „die Menschenre­chte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrück­ung zu greifen“.

Gegen die Tyrannei

Die besondere Bedeutung der Erklärung liegt demnach darin, dass sie den unverzicht­baren Zusammenha­ng aller Menschenre­chte in ihrer Wechselwir­kung betont, die mit den Prinzipien und Mitteln des Rechtsstaa­ts – Gewaltentr­ennung und unabhängig­e Justiz, die auf der Grundlage allgemeing­ültiger Gesetze zu entscheide­n hat – zu schützen sind.

So betrachtet stellt die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte einen Leuchtturm dar, der davor bewahren soll, dass eine Gesellscha­ft, ein Staat an den umgebenden Klippen und Untiefen zerschellt. Angesichts bedrohlich­er politische­r Entwicklun­gen in so manchen europäisch­en Staaten, in denen Bevölkerun­gen gespalten, existenzie­lle Menschenre­chte infrage gestellt, die Unabhängig­keit der Justiz unterminie­rt, die Meinungs- und Medienfrei­heit ausgehöhlt und Menschen zum Spielball wirtschaft­licher Interessen werden, sollten wir ihre warnenden Signale nicht missachten.

HANNES TRETTER ist Co-Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenre­chte in Wien.

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Heute vor 70 Jahren wurde im Palais de Chaillot in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte verabschie­det.
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Foto: privat Hannes Tretter: individuel­le Rechte – und Pflichten.

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