Der Standard

ZITAT DES TAGES

Rück- statt Fortschrit­te sieht Bildungsex­perte Michael Schratz im österreich­ischen Bildungssy­stem. Nicht nur Ziffernnot­en und Sitzenblei­ben seien gestrig, Gleiches gelte auch für das Festhalten an der Halbtagssc­hule.

- INTERVIEW: Peter Mayr, Karin Riss

„Von der Halbtagssc­hule müssen wir uns verabschie­den. Das fällt uns sonst auf den Kopf.“

Michael Schratz ist ein weitgereis­ter Mann. Mehr als 100 Schulen hat der Bildungsex­perte auf der ganzen Welt in den vergangene­n Jahren besucht. Sein Ziel: die Besten von ihnen zu finden, um daraus Schlüsse für ein gut funktionie­rendes Bildungssy­stem zu ziehen. In seinem neuen Forschungs­projekt geht er den Gemeinsamk­eiten guter Schulen auf den Grund.

Dem österreich­ischen Schulsyste­m stellt der Forscher kein gutes Zeugnis aus. Es hinke den Entwicklun­gen in anderen Ländern um Jahre hinterher, bisherige Reformen seien mehr Kosmetik denn großer Wurf. Aus Finnland möchte er die Auflösung des klassische­n Fächerunte­rrichts importiere­n, aus Singapur die Bedeutung des „persönlich­en und gesellscha­ftlichen Wohlergehe­ns“als Kompetenz, die den Schülerinn­en und Schülern vermittelt werden soll. Dass Österreich und Deutschlan­d noch immer auf ein Halbtagsmo­dell setzen, sei durch die internatio­nale Brille betrachtet sowieso nur eine Skurrilitä­t.

Δtandard: Gibt es Gemeinsamk­eiten von guten Schulen? Schratz: Schule ist immer sehr stark kontextgeb­unden. Was sie unabhängig von ihrem Standort aber auszeichne­t, ist: Gute Schulen haben gemeinsame Ziele, auf die sie hinarbeite­n. Viele haben aus einer Krisensitu­ation heraus ihre Schulentwi­cklung begonnen. Bei den Siegerschu­len des Deutschen Schulpreis­es sieht man, wie weit man gehen muss, um überhaupt die Enge des Denkens zu verlassen abseits der Feststellu­ng „Wir müssen guten Unterricht machen“.

Δtandard: Ist das ein Appell an die Haltung, dass die Arbeit im Fach gleich wichtig ist wie die Arbeit für die Schulgemei­nschaft?

Schratz: Fachliche Qualifizie­rung ist das Um und Auf. Aber wir müssen mehr den Blick darauf legen, was mein Fach zum großen Ganzen beiträgt. Da muss ich immer davon ausgehen, was ich lernseits nenne und nicht lehrseits. Ich brauche meine ganze Profession­alität, muss aber hinspüren, was braucht diese Schülerin oder dieser Schüler momentan. Wenn ich das nicht merke, dann gibt es immer den klassische­n Unterricht, bei dem die lehrseitig­e Orientieru­ng dominiert. Für die meisten ist dieser Perspektiv­enwechsel schwierig, weil die Ausbildung sehr stark auf das einzelne Fach ausgericht­et ist und nicht so sehr auf die Schule als Ganzes. Damit wird jedes „zum Ganzen etwas beitragen“dann als „etwas weggenomme­n bekommen“verstanden.

Δtandard: Geht sich das alles – fachbezoge­nes Lernen, Pflegen der Schulkultu­r – überhaupt in einer Halbtagssc­hule aus?

Schratz: Nein. Von der Halbtagssc­hule müssen wir uns verabschie­den. Das fällt uns sonst auf den Kopf. Fortschrit­tliche Länder haben auch die Taktung in 45 Minuten aufgelöst. In Finnland wird mit Phänomenen gearbeitet. Die Schüler eignen sich dabei Lehrplanin­halte nicht in unterschie­dlichen Fächern an, sondern werden mit komplexen Aufgaben konfrontie­rt – weil es im Leben ja keine isolierten Probleme gibt.

Δtandard: Haben Schulleitu­ngen dafür denn genug Spielraum? Schratz: Die preisgekrö­nten Schulen haben dieselben Bedingunge­n wie alle anderen. Insofern stehen hier nicht die Rahmenbedi­ngungen im Weg, sondern die Fähigkeit, Schule neu zu denken. Gute

Schulleitu­ngen arbeiten nicht im, sondern am System. Wir sind ja nicht in dem Sinn schlechter geworden, wir haben uns nur wenig weiterbewe­gt. Unser Bildungssy­stem ist stehengebl­ieben, wo es schon vor zehn Jahren war.

Δtandard: Mit Blick aus der Außenpersp­ektive auf unser Bildungssy­stem, was fällt da auf?

Schratz: Besucher aus dem Ausland verstehen nicht, dass man hier nur halbtags in die Schule geht. Die sagen: Ihr verschwend­et ja Qualitätsz­eit! Auch die frühe Trennung des Schulsyste­ms mit zehn Jahren versteht kaum jemand außerhalb Österreich­s. Oder die Tatsache, dass alle das gleiche Schulbuch verwenden. Wie gibt es das, dass alle das Gleiche lernen? Das passt ja überhaupt nicht mit dem zusammen, wie Menschen sich entwickeln, heißt es. Für uns ist das hingegen selbstvers­tändlich – ich war ja selbst Lehrbuchau­tor.

Δtandard: Ist das Festhalten am traditione­llen Unterricht in Österreich nur ideologisc­h erklärbar? Bildungsmi­nister Faßmann sagt, manche politische­n Entscheidu­ngen brauchen keine wissenscha­ftliche Fundierung. Schratz: Man kann sich das eigentlich gar nicht erklären. Aus der Forschung haben wir ja genug Befunde, was ein gutes Schulsyste­m auszeichne­t. Was Fassmann anlangt: Mich wundert, dass ein Wissenscha­fter so etwas sagt. Ich muss das zwar zur Kenntnis nehmen, aber als Wissenscha­fter bin ich der Wahrheit verpflicht­et und nicht der Politik. Evidenzbas­ierte Bildungspo­litik sollte schauen, wie gut sind wir, was können wir tun, damit wir besser werden? Dann sollte alles getan werden, um besser zu werden.

Δtandard: Sehen Sie das?

Schratz: Nein, das sehe ich nicht. Im Gegenteil: Wir haben Rückschrit­te in bestimmten Bereichen. Stichwort Ziffernnot­en, an deren Alternativ­en die Volksschul­en lange gearbeitet haben.

Δtandard: Was ist so schlimm daran? Es gibt doch weiterhin die alternativ­e Beurteilun­g. Schratz: Das Problem ist, dass wir ein sehr numerisch geprägtes Denken haben. Eltern tun sich also mit anderen Rückmeldun­gen schwerer, sie wollen oft Noten. Worum es eigentlich geht, ist zu schauen: Werde ich als Schülerin, als Schüler überhaupt wahrgenomm­en? Hinter einer Note werde ich nicht wahrgenomm­en. Es wird eher wahrgenomm­en, was falsch ist.

Δtandard: Soll es Noten dann erst ab zehn Jahren geben? Schratz: Das finnische Schulsyste­m hat bis 15 Jahre keine Noten. Ich frage mich, wozu brauche ich sie, wenn ein ganzes Land, das viel erfolgreic­her ist als Österreich, darauf verzichten kann?

Δtandard: Ist das Sitzenblei­ben ab der zweiten Klasse auch ein Rückschrit­t?

Schratz: Es gibt kaum mehr Länder, die überhaupt ein Sitzenblei­ben haben. Es wäre viel zielführen­der, und das machen andere Länder, die personalis­iert arbeiten, zu sagen: Wie kann ich das auffangen? Wenn ich jahrgangsü­bergreifen­den Unterricht habe in der Volksschul­e, dann gibt es kein Sitzenblei­ben, dann bin ich in bestimmten Leistungsb­ereichen einfach in einem anderen Jahrgang.

Δtandard: Es gibt eine Fülle von Bildungste­sts. Wird viel zu viel getestet?

Schratz: Die Tests kann man nicht generell schlechtma­chen. Die Frage ist natürlich, wer wird dabei mit wem verglichen? Wenn man sich den asiatische­n Raum ansieht, die haben ganz andere Bedingunge­n. Wir vergleiche­n also ein Halbtagssc­hulsystem mit Schulen, wo die Schüler bis elf am Abend lernen. Das Gute: Früher hatten wir in Österreich nicht die Möglichkei­t einer Fremdeinsc­hätzung, insofern hat das Vergleiche­n bei Pisa eher einen Referenzch­arakter. In Singapur, die ja bei Pisa ganz vorne waren, will man mit den Tests zurückgehe­n. Die sagen: Wir wissen, dass wir gut sind. Dort ist schon ein ganz anderes Thema wichtig, das des „well-being“. Wichtig ist persönlich­es und gesellscha­ftliches Wohlergehe­n.

Δtandard: Zuletzt noch kurz zu der Reform der Neuen Mittelschu­le: Ist die NMS überhaupt noch zu retten? Schratz: Es sind schon so viele Rettungsve­rsuche gestartet worden, da muss man sich überlegen, wie kann man überhaupt ein System organisier­en, das das Beste für jedes Kind ermöglicht. Das sehe ich momentan nicht, wenn schon in der Volksschul­e in der zweiten, dritten Klasse Interventi­onen anfangen, dass das Kind in die richtige Schule kommt. Es gibt Zehnjährig­e mit Magengesch­würen. Ist es das, was wir wollen? ´

MICHAEL SCHRATZ, geboren 1952 in Graz, war Professor am Institut für LehrerInne­nbildung und Schulforsc­hung der Universitä­t Innsbruck. Der Erziehungs­wissenscha­fter ist Mitglied und Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreis­es.

 ??  ??
 ?? Foto: Hendrich ?? Wundert sich über Bildungsmi­nister Heinz Faßmann, der nicht auf Forschung setzt: Michael Schratz.
Foto: Hendrich Wundert sich über Bildungsmi­nister Heinz Faßmann, der nicht auf Forschung setzt: Michael Schratz.

Newspapers in German

Newspapers from Austria