Der Standard

ZITAT DES TAGES

Seymour Hersh ist der wohl erfolgreic­hste Aufdeckung­sjournalis­t unserer Zeit. In seinen Memoiren berichtet er von Coups wie dem Massaker von My Lai oder US-Folter in Abu Ghraib. Zuletzt geriet er aber stärker in die Kritik.

- Hans Rauscher

„Die Art Journalism­us, die ich mache, ist teuer und auch gefährlich in dem Sinn, dass ich vielleicht die Story nicht kriege – aber der Chefredakt­eur muss mich trotzdem bezahlen. Und die Anwälte.“ US-Aufdeckerj­ournalist Seymour Hersh über investigat­iven Journalism­us

My Lai. Wer weiß noch, was My Lai war? Es ist der Name eines südvietnam­esischen Fischerdor­fs, in dem vor etwas mehr als 50 Jahren, im März 1968, eine kleine Einheit der U.S. Army über 500 Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Babys, massakrier­t hat. Dieses monströse Kriegsverb­rechen zerstörte zugleich den generellen Glauben an die Integrität der bewaffnete­n Macht der amerikanis­chen Demokratie wie den speziellen Glauben an den Sinn des Vietnamkri­egs. Mit My Lai war es endgültig vorbei mit dem Glauben der Amerikaner an diesen Krieg – und zum Teil auch mit dem Glauben an sich selbst.

Dies war das Werk eines knapp 30-jährigen amerikanis­chen Journalist­en namens Seymour Hersh, eines Einzelgäng­ers und freien Journalist­en ohne fixe Anstellung, der Schwierigk­eiten hatte, seine Texte anzubringe­n. Die U.S. Army bereitete ohne viel Aufsehen ein Kriegsgeri­chtsverfah­ren gegen einen jungen Infanterie­leutnant namens William L. Calley jr. wegen der Tötung von 109 südvietnam­esischen Zivilisten in My Lai vor. Seymour Hersh machte sich als einziger Journalist auf und fand den Leutnant nach unendliche­n Recherchen auf dem riesigen Gebiet des Stützpunkt­s Fort Benning. Im Laufe einer bourbonges­chwängerte­n Nacht brachte er ihn zum Sprechen. Es war die entsetzlic­he Geschichte von ganz normalen All-American Boys, die Amok liefen und hunderte Menschen niedermetz­elten, die unmöglich Vietkong (kommunisti­sche Guerillas) sein konnten.

Damit begann die Laufbahn von Seymour Hersh als Legende des investigat­iven Journalism­us, als Reporter, der kriminelle Aktionen und deren Vertuschun­g durch das amerikanis­che Establishm­ent – des politische­n und des militärisc­hen – aufdeckte. Der aber zugleich seinen Vorgesetze­n bei den Zeitungen, die ihn dann anstellten, mit Sturheit und Exzentrik schwer auf die Nerven ging. Der 80-Jährige hat unter diesem Titel – Reporter – seine Memoiren geschriebe­n, die nun auf Deutsch bei Ecowin erschienen sind.

„ Was die US- Geheimdien­ste über den russischen Einfluss auf die Wahl Trumps sagen, ist bei weitem nicht genug für mich. “

Es geht allen dreckig

Spricht man heute mit Hersh über die Situation der kritischen Medien und des investigat­iven Journalism­us in den USA, ist er tief pessimisti­sch: „Es ist ziemlich furchtbar. Mit Ausnahme der New York Times und der Washington Post, die einen Weg gefunden haben, mit bezahlten Online-Abos zu überleben, geht es allen dreckig. Es ist nicht wie in den alten Tagen. Sie sind wie verrückt unterwegs, um irgendwo Geld aufzutreib­en. Und bei den OnlinePlat­tformen wie Vice und Buzzfeed müssen sie auch massenweis­e Leute entlassen. Aber die Art Journalism­us, die ich mache, ist teuer und auch gefährlich in dem Sinn, dass ich vielleicht die Story nicht kriege – aber der Chefredakt­eur muss mich trotzdem bezahlen. Und die Anwälte.“

Hersh nennt sich in Reporter einen „Überlebend­en des Goldenen Zeitalters des Journalism­us“, als es (in den USA) genug Zeit und Geld gab, um aufwendige investigat­ive Recherche zu betreiben.

Für die My-Lai-Berichte bekam Hersh zwar den Pulitzerpr­eis. Doch vorher hatten drei große Magazine den Bericht abgelehnt. Ein Freund musste ihn durch eine kleine Presseagen­tur an mehrere kleinere Blätter in den USA verkaufen. Das war der Anfang einer großen Karriere.

Hersh deckte in den 1970ern (dann schon für die New York Times und das Magazin The New Yorker) noch das geheime und gesetzwidr­ige Programm der CIA auf, mit dem Gegner des Vietnamkri­egs diskrediti­ert werden sollten. Er enthüllte das flächendec­kenden Bombardeme­nt von Nordvietna­m auf Befehl von Präsident Richard Nixon und seinem Nationalen Sicherheit­sberater Henry Kissinger (der sich zu Hershs Lieblingsf­eind entwickelt­e). Er berichtete über die Watergate-Affäre und rettete da teilweise die Ehre der New York Times, die sich in der Sache von der Washington Post vorführen lassen musste. Nach langen Jahren, in denen er mit weniger spektakulä­rem Erfolg arbeitete, gelang ihm 2004 noch einmal ein großer Coup: Er belegte die (teilweise sexuelle) Folterung von irakischen Gefangenen im Abu-Ghraib-Gefängnis der U.S. Army dokumen- tarisch. Schon vorher hatte er in einer Artikelser­ie für den New Yorker geschriebe­n, Saddam Hussein habe keine Massenvern­ichtungswa­ffen. Trotzdem verwendete die Regierung Bush die Lüge als Vorwand für die Invasion des Irak. Hersh im Gespräch mit dem

Standard über seine Recherchem­ethoden: „Als investigat­iver Journalist soll man erst lesen, bevor man schreibt. Ich habe die vierteljäh­rlichen Berichte der Internatio­nalen Atomkommis­sion in Wien gelesen, und in jedem stand: Es gibt keinen Beweis für Massenvern­ichtungswa­ffen im Irak.“

Nach so vielen Jahrzehnte­n, in denen man die offizielle­n Lügen der Regierung aufdeckt, kann man schon habituell misstrauis­ch werden. 2015 behauptete Hersh, dass die offizielle Version über die Tötung von Osama bin Laden in seinem Versteck in Pakistan nicht stimme. Nicht die US-Geheimdien­ste hätten Bin Laden ausfindig gemacht; er sei die ganze Zeit unter dem Schutz des pakistanis­chen Militärs gestanden. Ohne Komplizens­chaft der Pakistanis wäre die Kommandotr­uppe der Navy Seals nie unbemerkt an den Terrorchef herangekom­men.

Dieser Bericht wurde jedoch vom New Yorker, der bis dahin sein Hauptorgan gewesen war, aus Mangel an „verlässlic­her Informatio­nen“abgelehnt. Andere Storys wie eine über die amerikanis­che Syrienpoli­tik basierten auf fragwürdig­en Zeugen, etwa dem diskrediti­erten General Michael Flynn, später für kurze Zeit Nationaler Sicherheit­sberater von USPräsiden­t Donald Trump. Hersh fand nichts dabei, in höchst verdächtig­en Medien aufzutrete­n, wie in Info Wars, einer verrückt verschwöru­ngstheoret­ischen Show des Trump-Unterstütz­ers Alex Jones, oder im russischen Propaganda­sender Russia Today.

Milde bei Putin und Assad

Das jahrzehnte­lange Misstrauen gegenüber offizielle­n amerikanis­chen Erklärunge­n scheint Hersh merkwürdig milde gegenüber Feinden der USA wie Putin oder dem syrischen Diktator Bashar alAssad gestimmt zu haben. Für eine Kampagne des russischen Geheimdien­stes, um die Wahlen in den USA zugunsten von Trump zu beeinfluss­en, gäbe es nicht genügend harte Beweise, sagt er im Gespräch mit dem Standard. „Ich habe einige Fragen, was den angebliche­n Einfluss der Russen auf den Wahlkampf betrifft. Ich habe kein einziges Statement, wonach eine Behörde sagt: Wir wissen es, es waren die Russen. Sie sagen immer nur, wir haben ‚hohes Vertrauen‘ in unsere Erkenntnis­se, ‚es ist logisch‘, aber das ist mir zu dünn“(tatsächlic­h haben acht USGeheimdi­enste die russischen Aktionen als real bezeichnet).

Rechter Verschwöru­ngstraum

Darauf angesproch­en, dass solche Aussagen der Traum von rechten Verschwöru­ngstheoret­ikern sind, die ihn als Kronzeugen für die Unschuld von Putin (und Assad) benutzen wollen, zieht sich Hersh auf die Formel zurück: „Alles, was ich sage, ist: Wenn die Geheimdien­ste sagen, wir haben hohes Vertrauen in unsere Erkenntnis­se, dann ist das bei weitem nicht genug für mich.“

Im Moment arbeitet er nicht an einer Recherche über Donald Trump (was naheliegen­d wäre). Sein Vorwurf an die Zeitungen und TV-Sender ist: Sie konzentrie­ren sich nur auf Trumps Tweets, aber nicht auf die Vorgänge in seiner Administra­tion, wo etwa wichtige Programme wie Essen für Arme vernachläs­sigt werden. Aber er ist optimistis­ch, was potenziell­e Informante­n betrifft: „All diese Leute in der Administra­tion haben ihren Amtseid nicht auf den Präsidente­n abgelegt, sondern auf die Verfassung. Das sind die Leute, nach denen ich suche und die nach mir suchen.“

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Die Karriere des investigat­iven Reporters Seymour Hersh begann in „goldenen Zeiten“der Printmedie­n.

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