Der Standard

Ethisches Versagen in der Forschung?

- BERICHT: David Rennert

Eine Untersuchu­ng lässt befürchten, dass in hunderten Studien zu Transplant­ationen in China Organe von hingericht­eten Häftlingen verwendet wurden. Dennoch sind die betreffend­en Arbeiten in der internatio­nalen Fachpresse erschienen – Forscher sehen ein eklatantes ethisches Versäumnis.

In Fragen der ethischen Verantwort­ung medizinisc­her Forschung gerät China immer wieder in die Kritik. Insbesonde­re Berichte über mutmaßlich­e Organentna­hmen an hingericht­eten Häftlingen zu Transplant­ations- und Forschungs­zwecken sorgen seit Jahren für Diskussion­en. 2016 kam etwa ein investigat­iver NGO-Report zum Schluss, dass alle in chinesisch­en Krankenhäu­sern verzeichne­ten Transplant­ationen die Angaben der Regierung jährlich um das Sechs- bis Zehnfache übersteige­n. Die Autoren vermuteten, dass sich die Diskrepanz durch die nicht offiziell verlautbar­te Verwendung der Organe von Häftlingen ergeben dürfte. 2017 forderte das Europäisch­e Parlament die chinesisch­e Regierung in einer Erklärung dazu auf, von dieser Praxis abzusehen.

Namhafte Publikatio­nen

Jetzt hat ein australisc­hes Forscherte­am erstmals umfassende­r untersucht, welche wissenscha­ftlichen Studien zu Organtrans­plantation­en in China in den vergangene­n Jahren in internatio­nalen Fachzeitsc­hriften publiziert wurden und wie es darin um die Spendertra­nsparenz bestellt ist. Das Ergebnis ist bemerkensw­ert: Zwischen 2000 und 2017 erschienen demnach mehr als 400 chinesisch­e Studien zu Transplant­ationen in der englischsp­rachigen Fachpresse, in denen weder Angaben zur Herkunft der Organe noch zur Zustimmung der Organspend­er gemacht wurden. Die Autoren um Wendy Rogers von der Macquarie University in Sydney orten klare Verstöße gegen ethische Standards.

Wie Rogers und Kollegen in BMJ Open berichten, sind davon auch namhafte Publikatio­nen betroffen – etwa das American

Journal of Transplant­ation oder das offizielle Medium der Transplant­ation Society mit dem Titel Transplant­ation. Besonders pikant: Beide Magazine könnten damit gegen selbstaufe­rlegte Richtlinie­n verstoßen, in denen sie die Veröffentl­ichung von Forschungs­ergebnisse­n strikt ablehnen, wenn diese unter ethisch fragwürdig­en Bedingunge­n zustande gekommen sind. Studien nach Organentna­hmen an hingericht­eten Häftlingen fallen explizit darunter.

Konkret untersucht­e das australisc­he Team chinesisch­e Studien zur Transplant­ation von Herzen, Lebern und Lungen, die im Laufe von 18 Jahren in englischsp­rachigen Fachmagazi­nen veröffentl­icht wurden. In den 445 identifizi­erten Arbeiten wurden insgesamt 85.477 Transplant­ationen thematisie­rt – wobei die Autoren einräumen, dass die tatsächlic­he Zahl niedriger sein könnte, da auch Mehrfachpu­blikatione­n zu einzelnen Transplant­ationen darunter sein könnten. Doch davon abgesehen: Aus 412 dieser Veröffentl­ichungen geht demnach nicht hervor, ob die Organe von Häftlingen stammen oder nicht, 439 Studien machen keine Angaben zu einer Einwilligu­ng der Organspend­er.

Fragen der Komplizens­chaft

Rogers und Kollegen sehen darin ein glattes Versäumnis der wissenscha­ftlichen Gemeinscha­ft bei der Umsetzung ethischer Standards: „Infolgedes­sen gibt es inzwischen eine große Zahl unethische­r wissenscha­ftlicher Veröffentl­ichungen, von denen die Transplant­ationsfors­chung profitiert – das wirft Fragen der Komplizens­chaft auf“, schreiben die Wissenscha­fter. Sie empfehlen die Rücknahme und detaillier­te Prüfung aller betreffend­en Veröffentl­ichungen. Es wäre nicht das erste Mal: Schon 2017 zog das renommiert­e Fachmagazi­n Liver Internatio­nal ein chinesisch­es Paper zurück, in dem mehr als 500 Lebertrans­plantation­en untersucht worden waren – nachdem Rogers den Verdacht unethische­r Organentna­hmen geäußert hatte.

Ob und wann sich an dieser Praxis in China etwas ändert, ist fraglich. Die chinesisch­e Regierung hatte bereits 2015 angekündig­t, die Verwendung von Organen hingericht­eter Häftlinge zu stoppen. Seither wurden jedoch keine Gesetze beschlosse­n, die dies verbieten würden.

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