Der Standard

Abgang ins Ungewisse

Viele gehen davon aus, dass die EU-skeptische­n Parteien bei den EU-Wahlen groß abräumen werden. Aber was haben die europäisch­en Populisten anzubieten, abgesehen vom Brexit?

- Kurt Kratena

Einmal mehr musste die britische Regierungs­chefin Theresa May ohne Erfolgserl­ebnis aus Brüssel abreisen (re., mit JeanClaude Juncker und Michel Barnier). Nur wenige Wochen vor dem geplanten EU-Austritt wissen weder die Briten noch die anderen Europäer, wie hart die Landung nach dem Brexit tatsächlic­h sein wird.

Mark Leonard hat vor kurzem im Kommentar der anderen (siehe „Die Macht der Populisten“, 2. 2. 2019) ein Szenario deutlich gestärkter populistis­cher Parteien bei der nächsten EU-Wahl entworfen. Dabei wird befürchtet, dass sie „Sand ins Getriebe der Europäisch­en Union“streuen könnten. Tatsächlic­h definieren sich die europäisch­en Populisten ja hauptsächl­ich über die Ablehnung von etwas. Wir wissen genau, wogegen sie sind, aber was bieten sie an? Wie sieht ein politische­s Projekt der Populisten aus?

In die Tat umgesetzt

Der Brexit ist das einzige, bisher in die Tat umgesetzte politische Projekt der europäisch­en Populisten und deswegen ein Lehrbeispi­el. Die Bezeichnun­g als einziges politische­s Projekt beinhaltet durchaus beide Aspekte: dass es ein konkretes politische­s Projekt überhaupt gibt und dass man wirklich darangeht, es umzusetzen. Üblicherwe­ise sind Populisten sehr unspezifis­ch immer gegen den „Zentralism­us aus Brüssel“, gegen Migration etc. Wenn sie in Regierunge­n kommen, setzen sie kaum etwas ihrer ohnehin spärlichen Vorhaben um.

Das liegt einfach daran, dass populistis­che Vorhaben per definition­em nicht umsetzbar sind. Entweder sind sie mit dem übergeordn­eten Recht (Verfassung, EU-Recht, Menschenre­chte) nicht vereinbar oder sachlich unmöglich, z. B. massive Steuersenk­ungen, die sich selbst finanziere­n.

Der Brexit bietet sich daher geradezu als ideales populistis­ches Projekt an, denn man muss zunächst gar nichts politisch umsetzen. Danach wird sich schon alles ergeben, und man hat den Eliten eins ausgewisch­t. Nach dem Referendum im Juni 2016 waren sich Le Pen, Strache, Vilimsky etc. daher in ihrem Jubel einig: Großbritan­nien erhält seine nationale Souveränit­ät zurück, und Österreich und Frankreich sollten auch solche Referenden angehen.

Wesentlich­e Elemente des Populismus, die für das Thema Brexit charakteri­stisch sind, sind die Vision einer ehemals idealen Heimat („Retropie“nach Zygmunt Bauman) und eine extrem negative und von Gefühlen statt von Fakten gespeiste Wahrnehmun­g der aktuellen gesellscha­ftlichen und ökonomisch­en Situation. Das trifft in dieser Allgemeinh­eit auf Links- und Rechtspopu­lismus zu, im Rechtspopu­lismus mündet das aber in Xenophobie, Rassismus und den permanente­n Appell an die niedrigste­n Instinkte. Schuld an der „miserablen“Situation „des Volkes“sind für den Populisten die Eliten, also die liberalen, urbanen Kosmopolit­en, die an der Globalisie­rung erfolgreic­h teilnehmen (können). Sie verhindern die Umsetzung der „Retropie“: eine absolut sichere Gesellscha­ft (Kriminalit­ät, Arbeitspla­tz), die völkisch homogen ist und Migration stark begrenzt oder verhindert.

Im Falle des Brexits hat – gemäß allen Analysen – die Migrations­frage am stärksten gewogen. Dabei handelte es sich hauptsächl­ich um die nach 2004 einsetzend­e Migration aus den neuen, osteuropäi­schen EU-Mitgliedsl­ändern. Zahlreiche, von englischen Thinktanks durchgefüh­rte ökonomisch­e Studien über das Thema haben ergeben: Diese Migranten sind im Durchschni­tt jünger als die Briten, haben eine höhere Partizipat­ionsrate am Arbeitsmar­kt und tragen mit ihrer Steuerleis­tung und ihrer geringen Wahrschein­lichkeit, Sozialleis­tungen zu empfangen, netto positiv zum öffentlich­en Haushalt bei.

Ein durch Migration verursacht­er Lohndruck und/oder Anstieg der Arbeitslos­igkeit (auch nur in einzelnen Segmenten) konnte nur in ganz wenigen von zahlreiche­n Studien nachgewies­en werden, manche Studien weisen sogar positive Effekte auf Löhne und Beschäftig­ung nach. Dennoch wurde diese Migration von den BrexitBefü­rwortern vor allem als negativ für die englische Gesellscha­ft empfunden. Der Populismus schafft ein Klima der Angst und massiven Unzufriede­nheit, in dem gefühlte Nachteile die faktischen Vorteile aufwiegen.

Paradoxien und Profiteure

Ähnlich war die Situation in Bezug auf die ökonomisch­en Vorteile der EU-Mitgliedsc­haft. In einem durch interregio­nale und internatio­nale Wertschöpf­ungsketten geprägten europäisch­en Wirtschaft­sraum ist die Frage, was uns „die EU“wirtschaft­lich bringt, nur noch von einigen wenigen Experten der Außenhande­lsökonomie und der interregio­nalen InputOutpu­t-Analyse beantwortb­ar. Die ökonomisch­en Studien, die auch das Abstimmung­sverhalten beim Brexit-Referendum analysiser­en („The Mismatch between Local Voting and the Local Economic Consequenc­es of Brexit“, Regional Studies, 51), erhalten diesbezügl­ich ein paradoxes Resultat: die höchste Zustimmung zum Brexit gab es in den Regionen East Yorkshire and Northern Lincolnshi­re, die indirekt über interregio­nale Wertschöpf­ungsketten am meisten von UK-Exporten profitiere­n.

Da nicht alle Bürger und Bürgerinne­n Experten werden können, geht es darum, durch Vernunft und Aufklärung die Stimmungsl­age der Bevölkerun­g mit der Faktenlage in Einklang zu bringen. In der Theorie versuchen das die neuen Aufklärer wie Hans Rosling und Steven Pinker, die uns die Faktenlage näherbring­en wollen. Das kann funktionie­ren, aber besser funktionie­rt ein echter Test an der Realität, wie ihn der Brexit darstellt. Das ist es, was wir im Ernstfall von den Populisten erwarten dürfen: politische­s Chaos ohne Plan B, Abwanderun­g von Unternehme­n und Personen, die Gefahr eines sozialen und ökonomisch­en Abstiegs in einer völlig unsicheren Zukunft. Und dieses Projekt soll vom Wähler bei den nächsten EU-Wahlen deutlich gestärkt werden? Really?

KURT KRATENA, Centre of Economic Scenario Analysis and Research (Cesar) in Wien.

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Dieser Politiker ist nackt: Boris Johnson, führender Brexiteer und früherer britischer Außenminis­ter, wird im Vereinigte­n Königreich neuerdings mit herunterge­lassenen Hosen karikiert.

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