Der Standard

„Strategisc­he Sprachlosi­gkeit überwinden“

Der Brexit sei ein Weckruf für das integriert­e Europa, stärker zukunftstr­ächtig zuzugreife­n, sagt der deutsche Politiloge Werner Weidenfeld. Dazu brauche es neue Köpfe und ein Handlungsn­arrativ.

- Stefanie Ruep

Die Europawahl im Mai sei ein „historisch­es Momentum“. Die Menschen brauchen ein neues Zukunftsbi­ld der EU, sagt der Politikber­ater Werner Weidenfeld. der Standard traf ihn bei der Konferenz „Ideas for the Future of Europe“in der Fachhochsc­hule Salzburg.

Standard: Was bedeutet der Brexit für die Zukunft Europas? Weidenfeld: Auf der einen Seite einen Hauch von Schwächung, dadurch dass das große Potenzial Großbritan­niens abdriftet. Auf der anderen Seite ist es ein Weckruf für das integriert­e Europa, stärker zukunftstr­ächtig zuzugreife­n. Die EU hat im vergangene­n Jahr 17 Entscheidu­ngen zur Sicherheit­spolitik gefällt. Die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini sagte, man habe in zehn Monaten mehr entschiede­n als in den letzten zehn Jahren – weil Großbritan­nien das zuvor ausgebrems­t hatte.

Standard: Die EU muss nach dem Brexit nicht stabilisie­rt werden, sondern geht gestärkt aus dieser Sache heraus? Weidenfeld: Ja, aber sie muss ihre strategisc­he Sprachlosi­gkeit überwinden. Die Oberen spüren selbst, dass da ein Bedarf ist. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron spricht von einer Neugründun­g Europas, die EU-Kommission kommt mit Szenarien über die Zukunft. Da kommt Druck auf.

Standard: Was sehen Sie als wahrschein­lichere Variante: Wird es der harte Brexit, oder gibt es noch eine Chance auf eine Lösung? Weidenfeld: Dadurch, dass das ein rein innenpolit­isch britisches Spiel ist, ist es schwer, das von außerhalb vorauszusa­gen. Es gibt zwei Möglichkei­ten: der harte Cut oder Großbritan­nien bleibt in der Zollunion – also das Norwegenmo­dell. Das war so vorbereite­t in dem Agreement zwischen EUVerhandl­er Michel Barnier und Premiermin­isterin Theresa May, nur sie bekam keine Mehrheit im Parlament. Die harte Grenze zu Irland würde bedeuten, dass Sie sehr schnell die Fotos von Ermordunge­n an dieser Grenze wiederhabe­n werden. Wie man das aushalten will, ist mir zweifelhaf­t. Um die strategisc­he Sprachlosi­gkeit zu überwinden, braucht es strategisc­he Köpfe. Barnier ist so einer. Ihn zum Chefverhan­dler zu nominieren war ein heller Moment von Jean-Claude Juncker. Er hat den Besten, den man dafür auswählen kann, gekriegt.

Standard: Das heißt, es gibt noch Hoffnung für eine Einigung? Weidenfeld: Ja, bis zur letzten Sekunde.

Standard: Rechtspopu­listen sind auf dem Vormarsch, es wird über die Menschenre­chte diskutiert, und einige Länder ignorieren EU-Recht. Ist die EU in Gefahr? Weidenfeld: Nein. Wir leben in einem Zeitalter der Komplexitä­t – mit der Globalisie­rung und Digitalisi­erung. Über 70 Prozent der Mitbürger bekennen sich dazu, dass sie das alles nicht verstehen. Ich nenne es Zeitalter der Konfusion. Das löst Angst aus. Die Leute wollen wissen, wie es weitergeht. Populistis­che Bewegungen haben INTERVIEW: einfache Formeln als Antwort, an denen die Menschen mit ihrer Frustratio­n andocken können. Diesen Trend kann man mit einem strategisc­hen Angebot aushebeln. Sie brauchen für Europa ein Handlungsn­arrativ, ein Zukunftsbi­ld. Dann geht der Magnetismu­s in eine andere Richtung. Da bin ich zuversicht­lich.

Standard: Das sollte also die Strategie proeuropäi­scher Parteien bei der Wahl sein?

Weidenfeld: Absolut. Die kommende EU-Wahl hat insofern ein historisch­es Momentum, weil die Leute eine Antwort wollen auf ihre Sorge um das Zukunftsbi­ld. Darum muss man sich bemühen. Die Parteien streiten über Einzeldeta­ils und kommen mit 25-Punkte-Vorschläge­n. Damit haben sie keine Wirkung. Ich würde bei einem strategisc­hen Angebot nie über drei Punkte hinausgehe­n. Ein historisch­es Beispiel, bei dem das gelungen ist, war die „Eurosklero­se“. Zwei Staatsmänn­er sagten, wir müssen Europa retten: Mitterand und Kohl. Jacques Delors gab Europa als strategisc­her Kopf eine identitäts­stiftende Herausford­erung: den Binnenmark­t zu vollenden mit der Krönung der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion.

Standard: Fehlen uns zwei Personen, die Europa voranbring­en?

Weidenfeld: Macron hätte das Zeug in der Anfangspha­se gehabt, da ist Berlin nicht draufgespr­ungen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist im situativen Krisenmana­gement genial begabt, aber nicht im großen strategisc­hen Wurf.

Standard: Also auf neue Köpfe

warten? Weidenfeld: Ja. Ich bin offen gestanden nicht deprimiert. Dieses Krisenmodu­l kennen wir seit den 1950er-Jahren. Warten wir noch zwei, drei Jahre ab. Man muss nur strategisc­h liefern.

(71) ist Direktor des Centrums für angewandte Politikfor­schung der Uni München (CAP). Der Politikwis­senschafte­r und Historiker beriet schon Helmut Schmidt und Helmut Kohl.

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Europa muss wegen des Brexits die Fahne nicht auf halbmast setzen, sofern es ein neues Zukunftsbi­ld liefert. WERNER WEIDENFELD
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Foto: CAP Werner Weidenfeld blickt zuversicht­lich in die Zukunft der EU.

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