Sind wir zu viele?
Die Weltbevölkerung wächst rasant. Alle zehn bis 15 Jahre kommt eine Milliarde Menschen dazu. Das stellt die Welt vor Herausforderungen – ist in erster Linie aber ein Grund zum Feiern. Von einem großen Missverständnis.
Vor kurzem habe ich hier darüber geschrieben, dass das Leben der meisten Menschen auf der Welt immer besser wird, sie sind gesünder, besser gebildet und haben mehr Chancen. Aber, klar, gibt es nach wie vor viele Probleme. Kriege, Hunger, viele Länder stecken in der Armutsfalle und nicht zuletzt die Klimakrise. Daraufhin schrieb der Poster „QuePasa“:
Wir Menschen sind einfach zu viele. Die miesesten Probleme gehen wie durch Zauberei weg, wenn wir nur noch halb so viele wären. Aber das ist tatsächlich eines der letzten Tabus, das wir haben. Darüber spricht man nicht!
Ich denke nicht, dass das ein Tabu ist. Mein Eindruck ist, das ist eine weitverbreitete Ansicht: Auf der Welt leben viel zu viele Menschen, es werden immer mehr, und das ist ein riesiges Problem. Sprechen wir also darüber.
Fangen wir mit einem Blick auf die Zahlen an. Die Zahl der Menschen auf der Welt steigt enorm an (siehe Grafik unten). Derzeit gibt es mehr als 7,5 Milliarden Menschen. Seit den 1960ern wächst die Weltbevölkerung alle zehn bis 15 Jahre um eine Milliarde. Es ist diese Linie, die viele Menschen nervös macht. Warum steigt die Weltbevölkerung so stark an?
Was auf der Welt passiert, verläuft nach einem altbekannten Muster. Die längste Zeit der Geschichte hielten sich die Geburts- und die Sterberate die Waage. Frauen bekamen sehr viele Kinder, ein paar davon überlebten, wurden aber nicht recht alt, weil sie krank oder erschlagen wurden.
Aus dem Gleichgewicht
In den heute reichen Ländern änderte sich das schon vor längerer Zeit. Die Waage kam aus dem Gleichgewicht. Als Seuchen zurückgingen und der Wohlstand zunahm, sank die Sterberate – die Menschen waren besser ernährt, gebildet und gesünder – und mit Verzögerung auch die Zahl der Kinder, die Frauen bekamen.
Den Prozess, in dem zunächst weniger Menschen sterben, aber noch viele Kinder geboren werden, nennt man „demografischen Übergang“. In dieser Phase gerät die Waage aus dem Gleichgewicht, die Bevölkerung nimmt stark zu. „Aus dem Gleichgewicht“klingt negativ, es heißt nichts anderes, als dass weniger Menschen sterben.
Global gesehen sind noch viele Länder mitten in diesem Übergang. Dabei ist er für die Welt als Ganzes kurz vor dem Ende, wir sind unterwegs zu einem wirklich erstrebenswerten Gleichgewicht. Das verrät ein Blick auf die Geburtenrate (siehe Grafik unten).
Die Zahl der Geburten sinkt also stark, aber verzögert, wie erwartet. Warum bekommen Frauen auf der Welt immer weniger Kinder? Der Demograf Wolfang Lutz, er berät Uno-Generalsekretär António Guterres zum Thema, macht vor allem die bessere Bildung dafür verantwortlich. „Auch in Europa hat man lange nicht geplant, wie viele Kinder man möchte. Die sind einfach gekommen, weil man Sex hatte. Die Idee, dass man die Zahl der Kinder in der Ehe beschränkt, ist eine moderne Einstellung aus dem 20. Jahrhundert.“
Außerdem müsse es vorteilhaft sein, weniger Kinder zu bekommen. Wenn Familien von einfacher Landwirtschaft lebten, sei viel Nachwuchs als potenzielle Arbeitskraft erwünscht. Wirtschaftlicher Wandel und Urbanisierung – in der Stadt bringen Kinder weniger Nutzen – senken die Geburtenrate. Dazu komme, dass es akzeptable Methoden für die Familienplanung brauche, „da hat es enorme Verbesserungen gegeben“.
Warum wächst sie weiter?
Wenn die Geburtenrate bei 2,1 pro Frau liegt, ist das Gleichgewicht erreicht. Wir sind kurz davor. Heißt das, dass wir bei circa 7,5 Milliarden Menschen bleiben? Nein. Weil die Kinder, die schon geboren sind, erwachsen und alt werden, statistisch noch „dazukommen“– früher wären sie gestorben und damit aus der Statistik gefallen. Der schwedische Gesundheitsprofessor Hans Rosling nannte das einen „Auffülleffekt“. Die UN schätzt, dass 2100 circa elf Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, Lutz geht davon aus, dass der Gipfel niedriger ausfallen wird.
Dass die Weltbevölkerung wächst, ist in erster Linie eine sehr positive Entwicklung. Das ist der Grund, warum ich mich so ärgere, wenn darüber geklagt wird. Die meisten Frauen bekommen so viele Kinder, wie sie möchten. Weil sie Perspektiven haben, entscheiden sich immer mehr für kleine Familien, viel weniger ihrer Kinder sterben zu früh, immer weniger Eltern müssen um ihre Kinder trauern.
Ganz zu Ende erzählt ist die Geschichte damit aber noch nicht. Lassen Sie mich drei Gegenthesen aufstellen.
Gegenthese 1: Es gibt noch viel Armut. Wäre die Bevölkerung kleiner, wäre der Kampf dagegen leichter.
Dazu drei Dinge. Erstens ergibt der Gedanke wenig Sinn, denn die Menschen sind nun einmal da, und jeder, der meint, es gebe „zu viele Menschen“, muss auch sagen, wie er oder sie das zu ändern gedenkt. Zweitens ist der Anteil der Menschen, die extrem arm und unterernährt sind oder nicht lesen und schreiben können, massiv zurückgegangen – besonders stark in der Zeit, in der die Weltbevölkerung massiv zugenommen hat.
Drittens: Viele Kinder führen nicht zu Armut, sondern Armut führt zu vielen Kindern. Das ist die Grundaussage der Forscher Abhijit Banerjee und Esther Duflo. Zwar gab es lange die These des Ökonomen Gary Becker, mehr Kinder führten dazu, dass sich diese schlechter entwickelten. Neuere Studien bestätigen das aber nicht, schreiben Banerjee und Duflo.
Gegenthese 2: Das Problem liegt in Afrika. Dort wächst die Bevölkerung sehr stark, das könnte schiefgehen.
Der Pin-Code der Welt ändert sich. So hat es Hans Rosling ausgedrückt. Derzeit ist er 1-1-1-4. Eine Milliarde Menschen in Amerika, Europa, Afrika, vier in Asien. Am Ende des Jahrhunderts wird er vielleicht 1-1-4-5 sein, Asien wächst noch ein bisschen, Afrika vervierfacht sich. Ist das schlimm?
Einerseits ist es „normal“, denn Subsahara-Afrika ist mit einer Geburtenrate von fünf noch am Anfang des demografischen Übergangs. Indiens Bevölkerung hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg vervierfacht, und der Lebensstandard im Land ist gleichzeitig stark gestiegen. Dasselbe gilt für Bangladesch. Obwohl sich die Situation in vielen afrikanischen Ländern deutlich bessert, ist die Lage politisch oft noch prekär. Instabile Länder wie Nigeria oder die Demokratische Republik Kongo sollten sich laut Prognosen bis 2100 vervierfachen.
Demograf Lutz: „Manche Länder sind in einem Teufelskreis. Eine chaotische Regierung, die nicht in Bildung investiert, führt dazu, dass die Bevölkerung besonders schnell wächst, und das bringt dann noch mehr Chaos. Viele Junge, die sehen, wie gut es Menschen anderswo geht, aber selbst keine Jobs finden, das sorgt für Unruhe.“
Mauritius zeige einen Ausweg: „Das Land war in den 1960ern das Paradebeispiel einer Armutsfalle, schlimmes Elend, Umweltzerstörung, starkes Bevölkerungswachstum. Dann gab es Kampagnen zur Alphabetisierung von Frauen, die Geburten gingen schnell zurück, und heute ist es eines der reichsten Länder Afrikas.“
Gegenthese 3: Wenn Milliarden Menschen so leben wollen wie wir, ist die Klimakrise unlösbar.
Die Lösung der Klimakrise ist nicht weniger Menschen, sondern weniger Menschen, die auf Kosten unserer Zukunft leben. Sonst wäre Österreich im Moment auch „überbevölkert“, denn wir verbrauchen im Gegensatz zu allen Entwicklungsländern viel mehr Ressourcen, als wir dürften. Wer ist jetzt zu viel hier? Ich? Sie?
Die Hälfte der gesamten CO -Emissionen der Menschheit verantworten die USA und die EU-Staaten. Eine Welt, in der alle so wie wir leben, ist nicht nachhaltig, das stimmt. Es ist aber auch eine Welt, in der nur wir so leben, wie wir eben derzeit leben, nicht nachhaltig. Schafft der Westen den Umschwung, ist er Vorbild für den Rest der Welt – und hat dann Technologien, die es den anderen einfacher machen.
In Europa sind unser Lebensstil, unsere Wirtschaft und unsere Politik das Problem, in anderen Teilen der Welt mangelnde Perspektiven und zu wenig Bildung. Darüber sollten wir reden – und nicht, ob dieser Planet für eine beliebig hohe Zahl von Menschen reicht oder nicht. p Der Newsletter zur Serie: dSt.at/alles-gut-NL
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