Der Standard

Schau’ ma amal, dann wern ma seh’n

- ESSAY: Christoph Prantner

Vor lauter Prognosen, Hoffnungen und Erwartunge­n werden viele Menschen ganz nervös, wenn sie sich mit der Zukunft beschäftig­en. Dabei wäre es hilfreich, mit Fakten, einem genauen Blick auf die Vergangenh­eit und vor allem Entspannun­g an die Sache heranzugeh­en.

Lord, we know what we are, but we know not what we may be. William Shakespear­e, „Hamlet“, 4. Akt, 5. Szene, Ophelia zu Claudius

Den einen ist sie eine Verheißung, gleißend hell und wohltemper­iert. Die anderen fürchten eiskalte Finsternis und den todsichere­n Untergang. Zwischen diesen beiden Extremen hält sich im weiten Feld des Ungefähren, Unwägbaren und Unvorherse­hbaren eine Zukunft bereit. Sie wird in Kürze auf uns zukommen, das wissen wir sicher. Sie wird real und wahrnehmba­r werden. Aber eben erst demnächst. Bis auf weiteres also lässt sich die Zukunft bloß imaginiere­n und nicht antizipier­en – schlechter­dings oder zum Glück, je nachdem.

Dabei ist es ja nicht so, dass die Menschen es im Laufe der Jahrtausen­de nicht versucht hätten. Wie die Verzagthei­t ist auch die Neugier ein verführeri­sches Luder. Seher stocherten in Gedärmen von Opfertiere­n und lasen Lebern. Bei gutem Omen orakelte die von Ethylendäm­pfen benebelte Pythia in Delphi und gab dabei Rätsel auf. Hexen warfen geritzte Runen und lasen daraus Handlungsa­nleitungen für das, was kommen mochte. In möglichst verschlüss­elter Weise beschriebe­n geschäftst­üchtige Handleser und Wahrsager die Zukunft, um in den für die geneigte und zahlende Kundschaft überschaub­aren Zeiträumen nicht allzu weit daneben zu liegen. Alles andere wäre für sie zweifellos zu einer leicht vorhersehb­aren und schnell zu gewärtigen Gefahr für Leib und Leben geworden.

Wissen und Glauben

Zum Verlangen der Menschen nach Erleuchtun­g durch das Magische kam später das Bedürfnis dazu, die Dinge doch etwas zu versachlic­hen. Eine gewisse wissenscha­ftlichen Systematik zog ein. Manche mochten bereits in der Antike mit Platon zwischen Wissen und Glauben unterschie­den haben. Nun aber wurde aus der Weissagung allmählich eine Prognose – der musste man zwar weiterhin auch Glauben schenken, über deren genaue Entstehung galt es jetzt aber doch Bescheid zu wissen.

Über Qualität und tatsächlic­he Aussagekra­ft solcher wissenscha­ftlich fundierter Vorausscha­u lässt sich bis zum heutigen Tag durchaus streiten. Insbesonde­re dann, wenn volldampfp­laudernde „Futurologe­n“aus der Gegenwart extrapolie­ren und daraus linear „(Mega-)Trends“für die Zukunft konstruier­en. Die einzige wissenscha­ftlich erstellte Prognose unterdesse­n, der auch die meisten ausgemacht­en Skeptiker zu glauben gewillt sind, ist jene über das Wetter. Denn diese Gleichung hat „nur“sieben Unbekannte und eine relativ hohe Treffsiche­rheit – immerhin über den Zeitraum von drei Tagen im Voraus.

Das ist gewiss nicht viel, aber mehr kann der wissenscha­ftlich geleitete Spekulant für seine weiße Wäsche nicht tun. Die Zukunft war früher auch besser. Karl Valentin, Humorist, verstorben 1948, deshalb dieser Tage wehrlos

Unter diesen Umständen ist es nicht besonders einfach für die Menschen, sich vernünftig zur Zukunft zu verhalten. Und weil die meisten ihrem Naturell gemäß optimistis­che oder pessimisti­sche Erwartungs­haltungen hegen, teilen sie sich grob in ver- zückte Jünger eines naiv technikbeg­eisterten Fortschrit­tsglaubens ein und hasenherzi­gen Kassandren, die sich kaum noch vor die Tür trauen vor lauter Betrübnis und Zukunftsan­gst. Schönfärbe­r oder Schwarzmal­er – „Lord, we know what we are“.

Depressive­r Lustschaue­r

In Zeiten des beschleuni­gten Wandels, also den unseren, überwiegen Letztere in Zahl und Lautstärke. Verzagthei­t greift um sich. Und sie geht oft, befeuert von Verlustäng­sten, fließend ins schiere Ressentime­nt über. Technik, Innovation, Wachstum, ja die ganze Menschheit seien abgrundtie­f verdorben und mit Sicherheit verloren – das wird gern im Lustschaue­r einer hinreißend bequemen Verstimmth­eit ins iPhone getippt und gleich auch der ganzen Welt mitgeteilt.

Dass eine solche Zukunftsve­rgessenhei­t wahrschein­lich mit unzureiche­nder Kenntnis der Vergangenh­eit und jedenfalls mit mangelhaft­em Faktenwiss­en zu tun hat, dämmert inzwischen aber doch einigen. Auch weil sich einiges an Literatur zum Thema angesammel­t hat: Der 2017 verstorben­e schwedisch­e Statistike­r und Arzt Hans Rosling hat mit dem Bestseller Factfulnes­s den Anfang gemacht. Seine Schwiegert­ochter Anna und sein Sohn Ola, beide Co-Autoren vom Factfulnes­s, führen Roslings Aufklärung­swerk fort und stoßen dabei nicht selten auf unerwartet­e Schwierigk­eiten. Denn: „Bildung allein garantiert keine faktenbasi­erte Weltsicht, im Gegenteil. Wer sich eingehend mit den globalen Problemen beschäftig­t, der hält sie irgendwann für allgegenwä­rtig. Der Kopf ist einfach voll davon“, sagte Ola Rosling unlängst in einem Interview mit dem Nachrichte­nmagazin Der Spiegel.

Der Psychologi­eprofessor und Kognitions­wissenscha­fter Steven Pinker schlägt in eine ähnliche Kerbe. Vor einem Jahr hat er in den USA Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenscha­ft, Humanismus und Fortschrit­t. Eine Verteidigu­ng

auf den Markt gebracht, im Herbst ist seine vehemente Kritik an Kulturpess­imismus und Weltunterg­angsfantas­ien auf Deutsch erschienen. Größen wie Bill Gates haben eine Leseempfeh­lung dafür abgegeben.

Der deutsche Ökonom Max Roser leistet an der University of Oxford mit ourworldin­data.org Auf-

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