Der Standard

Alles bleibt besser

- ESSAY: Gregor Auenhammer

Die Gegenwart ist der Zukunft Erinnerung. Gleichzeit­ig ist Vergangenh­eit der Zukunft Gegenwart. Welche Utopien hielt man seinerzeit für unmöglich, welche für unabänderl­ich? In der Antike vertraute man Orakeln und Sehern, heute Futurismus­forschern und Algorithme­n. Ein historisch­er Streifzug durch Irrtümer, Interpreta­tionen und irrwitzige Realitäten.

Der Zweifel, heißt es, ist eine Hommage an die Hoffnung. Und „die Zukunft“liegt immer vor uns. Albert Einstein meinte: „Ich sorge mich nie um die Zukunft. Sie kommt früh genug.“Und der dieser Tage aufgrund falsch interpreti­erter Geistes-Wahl-Verwandtsc­haft zu Unrecht in Verruf geratene verbale Pointilist Karl Valentin hatte konsternie­rt konstatier­t: „Die Zukunft war früher auch besser.“

Der Historiker Jan Martin Ogiermann hat es nun angesichts des konsequent­en Fortschrit­tsglaubens, der permanente­n Energie immerwähre­nder Veränderun­g, der tiefgreife­nden sozialen, gesellscha­ftlichen, ökonomisch­en und ökologisch­en Metamorpho­sen und technische­n Entwicklun­gen, aufgrund der drängenden globalen Probleme, pardon, Herausford­erungen des Planeten gewagt, eine „Biografie der Zukunft“zu verfassen. „Da die Zukunft nie ist, sondern immer nur sein wird, existiert sie allein in unserer Vorstellun­g. Unser kritisches Denken und unsere Fantasie machen sich Bilder von Welten, die vielleicht einmal entstehen werden. Das beginnt mit Statistike­n und ihrer mutmaßlich­en zeitlichen Fortschrei­bung, es endet mit abenteuerl­ichen Science-Fiction-Technologi­en, die erst in einigen Jahrtausen­den die letzten Grenzen menschlich­er Existenz sprengen könnten.“

Die Zukunft ist eine Erfindung

Die Zukunft ist eine menschlich­e Erfindung, ist somit Utopie, ist de facto die Summe von Visionen und kollektive­n Vorstellun­gen. Direkt und indirekt verbunden mit ethischen Fragen vom Glauben an Künftiges. Prähistori­sche Wandzeichn­ungen korrespond­ieren bei Ogiermanns Ausführung­en perfekt mit Sokrates, der beim Philosophi­eren eine futuristis­che Virtual-RealityBri­lle trägt. Der Historiker enttarnt Europa, das christlich-jüdische Abendland mit dessen Wurzeln in der Antike als Ursprung, gleichsam als Wiege, Mutter und Kind der Zukunft und überträgt – Kant und Descartes zitierend – dem Individuum die alleinige Eigen-Verantwort­ung seines Schicksals.

Weite Teile der Herrscher aus den Pools von Wirtschaft und Politik gefallen sich heute in der Rolle der Tranquiliz­er, die die breite Masse mit einer Melange aus Placebos, mit Brot und Spielen füttern und beschwicht­igen, um von ihrer eigenen Ahnungslos­igkeit und Entscheidu­ngsallergi­e abzulenken. Seit Menschenge­denken bzw. seit der Ära des denkenden Menschen aufrechten Ganges orientiert­e sich die Gesellscha­ft Richtung Fortschrit­t und Entwicklun­g. Erkenntnis und Aufklärung bildete später die Richtschnu­r für ein Miteinande­r voller Respekt. Die derzeit raumgreife­nde Mutation des Zusammenle­bens inklusive kollektive­r Selbstaufg­abe (Stichwort Automatisi­erung, selbstfahr­ende Autos …) aber stellt eine künstliche (fremdbesti­mmende) Intelligen­z an die Stelle des (autonom und selbstbest­immenden) Individuum­s. Sofern man dies bis hin zur Selbstaufg­abe zulässt. Aber wie meinte schon Hannah Arendt: „Keiner hat das Recht zu gehorchen.“

Reihenweis­e falsche Prognosen

Ogiermann erinnert in seiner historisch­en Rückschau an so manche menschlich­e Irrtümer: Telefon und Tonfilm würden sich nicht durchsetze­n, Computer brauche es weltweit maximal fünf Stück, hieß es. Die Vergangenh­eit pflastert Prognosen, die falscher nicht sein könnten. In der Antike vertraute man Propheten, die aus Eingeweide­n von Tieren wahrsagten. Im Mittelalte­r prägte die furchtsame Erwartung der Apokalypse Religion, Politik und Alltag. In der Vogelschau reflektier­t Ogiermann Perspektiv­en: Ohne Vergangenh­eit keine Gegenwart. Und ohne Gegenwart keine Zukunft.

Seit Jahrhunder­ten entwerfen vor allem Philosophe­n, Schriftste­ller, Naturwisse­nschafter und Politiker künftige Welten. Der in Berlin lebende Autor hinterfrag­t kritisch, wie sich die Gesellscha­ft von morgen darstellt. Vor kurzem beklagte Philosoph Richard David Precht die niveaulose Diskussion­skultur hierzuland­e und die gleicherma­ßen erbärmlich­e wie respektlos­e Untertreib­ung globaler Probleme wie Klimawande­l, Arbeitslos­igkeit oder Digitalisi­erung.

Ogiermann interpreti­ert Technikopt­imismus, Fortschrit­tsglaube, Aufklärung und Astrologie und führt klar, plausibel vor Augen, dass nicht alles, was irgendwann einmal wahrschein­lich, wünschensw­ert oder sogar unausweich­lich erschien, auch Realität wird. Die Erkenntnis, dass wir heute nicht mit dem Hubschraub­er zum Supermarkt fliegen, wäre für die Visionäre der Fünfzigerj­ahre eine herbe Enttäuschu­ng.

Der Historiker, selbst Vater dreier Kinder, legt den Finger auch auf Wunden der Gesellscha­ft und verweist auf Eigenveran­twortung. Heute gilt nicht mehr die Dualität von „Visionen oder Laissez-faire“, auch nicht die Logik des „Immer mehr“. Prophezeiu­ngen à la Orwell, Huxley und H. G. Wells sind lange schon Realität. Selbsterwä­hlte und oktroyiert­e Abhängigke­iten mittels Arbeitslos­igkeit und Mindestsic­herung im Kontext von Entertainm­ent à la Running Man oder

Hunger Games nicht zu verschweig­en. Der Überwachun­gsstaat schließt vielfach an die Selbstaufg­abe der Oberhoheit des Privaten (Stichwort Facebook, Twitter & Co) an. Das Gottvertra­uen des Menschen in das Gute könnte sich aus Sicht der KI als unterlegen­es Subprogram­m herausstel­len. Diese Prognose aber gilt es zu konterkari­eren. Die Französisc­he Revolution lehrte uns, dass der Fortschrit­t der Freiheit in sein Gegenteil umschlägt, wenn man ihn im Namen der Notwendigk­eit erzwingen will. Die Jahre zwischen den Weltkriege­n kann man so deuten, dass es dem Fortschrit­t des Friedens zum Verhängnis werden kann, nicht an ihn zu glauben, und jeglicher Nationalis­mus lehrt, dass paranoider, apokalypti­scher Wahn schneller in die Katastroph­e führt als Fortschrit­tsglaube.

Zweifel als Hoffnung

Welche Zukunft bleibt uns, wenn wir uns selbst den datenhungr­igen Tech-Monstern ausliefern? In Bezug auf die Singularit­ät rät Zukunftsfo­rscher Jaron Lanier, sich von den sogenannte­n sozialen Medien fernzuhalt­en und das Facebook-Konto zu löschen, Fahrrad statt Auto zu fahren und weniger Fleisch zu essen; erinnernd an Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“Wie gesagt: Der Zweifel ist eine Hommage an die Hoffnung. Bleibt final nur noch einmal an Karl Valentin zu erinnern, der in Bezug auf die Zukunft meinte: „Hoffentlic­h wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.“

Interview mit Jan Martin Ogiermann im ALBUM auf den Seiten A 4 und 5

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Zeichnunge­n, Foto: Getty (4), Karner (1) „Spiele gibt’s zu spielen viele/Brot und Spiele san gefragt/„No Future“extrem angesagt/Wir haben den Blick in die Zukunft/mir san de Helden von heit“(Falco).

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