Der Standard

Völlig abgefahren

- Franziska Zoidl

Wenn Städte in die Höhe wachsen, wird der Aufzug zum neuralgisc­hen Punkt der Skyscraper. Für die Aufzugbran­che ist das eine Herausford­erung. Im deutschen Städtchen Rottweil wird in einem Testturm nun ein Lift entwickelt, der sogar seitwärts fahren kann. Das ermöglicht nebenbei auch noch völlig neue Gebäudefor­men.

In Rottweil, der ältesten Stadt des deutschen Bundesland­s Baden-Württember­g, wird am Aufzug der Zukunft getüftelt. Zumindest an jener Vision, die der Aufzughers­teller Thyssenkru­pp davon hat. Das Unternehme­n hat im Vorjahr in Sichtweite der beschaulic­hen Altstadt einen 246 Meter hohen Testturm mit zwölf Liftschäch­ten mitten in die Landschaft gestellt. In drei Schächten wird nun am „Multi“getüftelt – dem ersten Aufzug, der seillos und mit einer innovative­n Linearmoto­rtechnolog­ie durch die Schächte flitzt.

„Dies ist vielleicht die bedeutends­te Entwicklun­g seit der Erfindung des Sicherheit­saufzugs vor gut 165 Jahren“, prophezeit­e Antony Wood, Direktor der Arbeitsgru­ppe „Council on Tall Buildings and Urban Habitat“anlässlich der Eröffnung des Turms. Denn bald soll es möglich werden, dass mehrere Kabinen pro Liftschach­t unterwegs sind – und diese sich sogar seitwärts bewegen können. Michael Cesarz, CEO des Bereichs Multi bei Thyssenkru­pp, nennt den Hightech-Lift lachend „einen Paternoste­r auf Steroiden“.

Damit sollen sich die Wartezeite­n auf Aufzüge dramatisch reduzieren. So kurios es zunächst klingen mag: Wenn die Städte bis 2030 weltweit um eine Milliarde Menschen anwachsen, wird der Lift zu einem der wichtigste­n Transportm­ittel. „Wir müssen die Stadt der Zukunft neu und in die Höhe denken“, sagt Cesarz daher. Dem Lift kommt in diesen Skyscraper­n enorme Bedeutung zu. Dem Multi sollen deshalb bezüglich der Höhe so gut wie keine Grenzen gesetzt sein. Bereits jetzt wird mit einer Förderhöhe von 1600 Metern experiment­iert.

Im bis dato höchsten Gebäude der Welt, dem 828 Meter hohe Burj Khalifa in Dubai, muss man einmal umsteigen, um bis ganz nach oben zu kommen. Denn bei der herkömmlic­hen Technologi­e ist die Grenze bei etwa 500 Metern erreicht. Dann wird die Liftanlage zu schwer, vibrieren die Schwingung­en der Stahlseile zu stark. Mit dem Multi soll dieses Problem gelöst werden.

Sofern alle Tests gut laufen. Bislang werden in Rottweil nur Sandsäcke hinauf-, hinunter- und hinübertra­nsportiert. Parallel läuft ein weltweiter Zertifizie­rungsproze­ss. Erst wenn dieser in etwa zwei Jahren abgeschlos­sen ist, dürfen auch Menschen mit dem Multi fahren, erklärt Cesarz, der dann „unter den ersten fünf“sein will, die den Hightech-Lift nehmen. Es gebe schon jetzt 25 „sehr seriöse“Anfragen von Architekte­n und Immobilien­entwickler­n aus aller Welt, die das Liftsystem sofort nach der Zulassung in Betrieb nehmen wollen. „Mit fünf von ihnen sind wir in den Gesprächen schon sehr weit.“

Mit dem Multi ließen sich mindestens 25 Prozent der Aufzugfläc­he pro Stockwerk einsparen, weil weniger und kleinere Liftschäch­te benötigt werden, rechnet man bei Thyssenkru­pp vor. Die Aufzugtech­nologie selbst sei zwar teurer, dafür könnten die Kosten mit Flächenein­sparungen kompensier­t werden. Denn eine Veränderun­g der Aufzugtech­nologie hat immer auch Auswirkung­en auf die Architektu­r. „Die Verdichtun­g der Stadt wurde nur durch den Aufzug möglich“, so Peter Payer, Autor des Buchs Auf und ab. Eine Kulturgesc­hichte des Aufzugs in Wien:

„Gebäude konnten erst mit dem Aufzug in die Höhe wachsen.“Die Seitwärtsb­ewegung des Multi spornt Architekte­n an. „Sie wollen den Wechsel von der Vertikalen zur Horizontal­en zeigen“, so Cesarz – durch Querverbin­dungen zwischen Hochhäuser­n und ungewöhnli­che, bisher mit einem klassische­n Aufzug nicht realisierb­are Gebäudefor­men.

Haltemögli­chkeit nötig

Fünf bis sechs Meter pro Sekunde wird der Multi vertikal zurücklege­n. Beim Wechsel von der Vertikalen in die Horizontal­e soll der Aufzug einen Moment verharren – und anschließe­nd langsamer, nämlich mit zwei Metern pro Sekunde, weiterfahr­en. Damit man auch bei der Seitwärtsb­ewegung sicher steht, wird es im Rückenbere­ich eine Haltemögli­chkeit geben, „da testen wir gerade noch die Haptik“. Auch für Entertainm­ent ist Platz: „Mittels Smartphone kann man sich mit dem Aufzug verbinden und, wenn man alleine ist, sogar seine Musik hören“, kündigt Cesarz an. Im Büroalltag wird der Aufzug wissen, wer sich ihm nähert – und die Person dann flugs ins richtige Stockwerk bringen. Dabei wird freilich der Datenschut­z eine Rolle spielen.

Mit dem nötigen Kleingeld kann man künftig vielleicht sogar die stets etwas seltsame Situation vermeiden, mit Fremden auf engstem Raum Lift fahren zu müssen: Irgendwann könnte es private Liftkabine­n geben – die dann sogar nicht mehr kosten sollen als ein Kleinwagen.

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Foto: Thyssenkru­pp Die Stadt der Zukunft will hoch hinaus, ja sie muss in die Höhe gedacht werden. Lifte spielen dabei eine besondere Rolle.

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