Der Standard

Grenzspekt­akel

- Fabian Sommavilla

Die Utopie von grenzenlos­er Freiheit durch das Einreißen von Mauern und Zäunen droht zu scheitern. Neue Barrieren werden aufgebaut, Grenzregio­nen zur Spielwiese der Rüstungsin­dustrie. Getrieben von politische­r Inszenieru­ng kommt es zu sozialer Entfremdun­g und zur Aufgabe von Persönlich­keitsrecht­en.

Internatio­nale Grenzen sind eigenartig. Unsichtbar­e Linien, die oft ohne einer wirklichen Logik zu folgen durch Städte, ja sogar Häuser verlaufen. Häufig schlängeln sie sich über Bergmassiv­e oder Felder. Afrikas Grenzen hingegen durchquere­n Wüstenland­schaften oft schnurgera­de über tausende Kilometer, weil sie am Reißbrett entworfen wurden. Sie alle unterliege­n einem permanente­n Wandel, auch was ihre politische Bedeutung betrifft. An den Grenzen ihrer Einflusssp­hären franste die Macht der Regierende­n in der Vergangenh­eit zuweilen aus. Heute stilisiere­n aber viele Politiker Grenzen als zentrales Nervensyst­em eines starken Staates. Sie werden immer mehr zum Politikum – frag nach bei Herbert Kickl, Benjamin Netanjahu oder Donald Trump. Der Politologe Nicholas de Genova bezeichnet dieses Verhalten als „border spectacle“: ein Spektakel, das an Grenzen inszeniert wird, um anhaltende Unsicherhe­it zu suggeriere­n.

Utopie der grenzenlos­en Welt

Mitte der 1990er gab es die Hoffnung, dass große Grenzkonfl­ikte nur noch Kapitel in Geschichts­büchern füllen würden. Der Eiserne Vorhang war gefallen, das Inkrafttre­ten des Schengener Abkommens machte Pass- und Grenzkontr­ollen in Teilen Europas obsolet, die Europäisch­e Union begann sich politisch tiefer zu integriere­n. Durch die Entkolonia­lisierung und den Zerfall von Mehrvölker­staaten wie der Sowjetunio­n oder Jugoslawie­ns entstanden dutzende neue Staaten und internatio­nale Grenzen. Die Anzahl von Grenzbarri­eren stieg zwischen 1989 und 2001 aber lediglich von 16 auf 19. Die Globalisie­rung nahm Fahrt auf; in einer vernetzten Welt, die global Handel betreiben möchte, würde sie durch Wartezeite­n an Grenzen empfindlic­h eingebrems­t. Zahlreiche Ökonomen, Politiker, aber auch viele der renommiert­esten Geopolitik­forscher sahen den Beginn des Zeitalters der grenzenlos­en Welt gekommen. Knapp 30 Jahre später muss man konstatier­en, dass diese schöne, wenngleich etwas eurozentri­stische und naive Utopie krachend zu scheitern droht. Ging es in den 1990ern noch fast ausschließ­lich um Vorteile einer globalisie­rten Welt, so werden heute negative Auswirkung­en in den Mittelpunk­t gerückt – etwa Fluchtkata­strophen aufgrund des Klimawande­ls. Befeuert durch die Angst vor transnatio­nalem Terrorismu­s sowie vor Menschen-, Drogen- und Waffenschm­uggel stieg die Zahl von Grenzbarri­eren wie Mauern und Zäunen an internatio­nalen Grenzen seither auf mehr als 70 an. Vor allem reichere Staaten schotten sich ab – gefordert oft just von Politikern und Menschen, die eigentlich fernab der Grenzregio­nen leben.

Die Abschottun­g verursacht wirtschaft­liche Einbußen und zunehmende Entfremdun­g auf sozialer Ebene. Beispiele entlang der Grenze zwischen den USA und Mexiko zeigen, was von derart isolierten Regionen künftig zu erwarten sein wird. Die ökonomisch schwächere Seite verarmt, der Schmuggel von Waren und Menschen blüht, die Kriminalit­ätsrate steigt. Die reichere Seite hält ihren Standard mit Mühe und oft nur deshalb, weil das Militär und die Überwachun­gsindustri­e Einzug hält – Techniker, Polizisten und Experten der großen Rüstungsun­ternehmen.

Zukunftsak­tie Grenzsiche­rheit

Lockheed Martin, Airbus, Thales, Boeing – die Unternehme­n, die während des Kalten Krieges noch Staaten mit Panzern, Handfeuerw­affen und Flugzeugen belieferte­n, realisiert­en zuletzt das geschäftli­che Potenzial der Militarisi­erung internatio­naler Grenzen. Mit rund 26.000 Kilometern sind heute bereits etwa zehn Prozent dieser Grenzen militärisc­h gesichert – Tendenz steigend. Mehrere Tausend Kilometer davon sind schon mit modernster Technologi­e ausgestatt­et – viele weitere werden ebenfalls bald mit Drucksenso­ren, Drohnenübe­rwachung, GPS-Satelliten­vernetzung und Batterien von Wärmebildk­ameras ausgestatt­et sein.

Menschen, die auf geregeltem Weg Grenzen überqueren, müssen im Namen angebliche­r Sicherheit künftig noch radikaler auf ihre Persönlich­keitsrecht­e verzichten. Schon heute liefern Reisende am Flughafen Fingerabdr­ücke ab. Iris- und Nacktscans sind fast schon obligatori­sch. Bevor sie überhaupt so weit kommen, wurden bereits mithilfe von Verhaltens­erkennungs­programmen sämtliche Bewegungen aufgezeich­net. Wer gähnt, pfeift oder scheinbar arrogant auftritt, erhält Strafpunkt­e vom System. Sind es zu viele, wird ins Verhörkamm­erl gebeten. Bald schon werden erhitzte Wangen von Wärmebildk­ameras registrier­t und Pupillenve­ränderunge­n beurteilt.

Lungenscan und Gutmensche­npass

Der Elektrochi­p aus dem Reisepass wird in absehbarer Zeit direkt unter die Haut eingepflan­zt sein, Kreditkart­eninformat­ionen sind an der Grenze abzuliefer­n, damit Verwaltung­sstrafen direkt abgebucht werden können. Heute noch unzuverläs­sige Systeme werden sich technisch verbessern, amtsbekann­te Gefährder und internatio­nal gesuchte Verbrecher werden wohl tatsächlic­h häufiger geschnappt. Den Löwenantei­l rausgefisc­hter Flugreisen­der werden aber wohl eher berauschte Urlauber oder nervöse, von Flugangst geplagte Menschen bilden. Und es wird immer noch möglich sein, sich aus Duty-freeArtike­ln Rohrbomben zu basteln.

Staaten haben dennoch erkannt, dass inszeniert­e Spektakel an der Grenze eine schier unerschöpf­liche Quelle an Informatio­nen bergen. Auch deshalb will Pakistan beim Visaantrag schon heute die Blutgruppe und die Wehrdienst­dauer wissen. Papua-Neuguinea fordert gar ein Röntgenbil­d der Lunge, einen beglaubigt­en HIV-Test und eine Bescheinig­ung der Polizeibeh­örde, die bezeugt, dass man ein „gutes Wesen“hat. Wer beim Antrag lügt, kann später leicht abgeschobe­n werden.

Wohin das Spektakel an Grenzen künftig noch führen wird? Man wird sich noch wundern, was alles möglich ist, wenn Überwachun­gsfanatike­r ihre Fantasien ausleben dürfen. Solange es geschickt als Beitrag zur Grenzsiche­rheit verkauft und inszeniert wird, dürfte die überwiegen­de Mehrheit der Bevölkerun­g das aber wohl akzeptiere­n, ja sogar gutheißen.

 ?? Foto: Reuters / Mike Blake ?? Die US-Südgrenze wird als permanente Gefahrenzo­ne inszeniert. Ganze Generation­en entfremden sich.
Foto: Reuters / Mike Blake Die US-Südgrenze wird als permanente Gefahrenzo­ne inszeniert. Ganze Generation­en entfremden sich.

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