Grenzspektakel
Die Utopie von grenzenloser Freiheit durch das Einreißen von Mauern und Zäunen droht zu scheitern. Neue Barrieren werden aufgebaut, Grenzregionen zur Spielwiese der Rüstungsindustrie. Getrieben von politischer Inszenierung kommt es zu sozialer Entfremdung und zur Aufgabe von Persönlichkeitsrechten.
Internationale Grenzen sind eigenartig. Unsichtbare Linien, die oft ohne einer wirklichen Logik zu folgen durch Städte, ja sogar Häuser verlaufen. Häufig schlängeln sie sich über Bergmassive oder Felder. Afrikas Grenzen hingegen durchqueren Wüstenlandschaften oft schnurgerade über tausende Kilometer, weil sie am Reißbrett entworfen wurden. Sie alle unterliegen einem permanenten Wandel, auch was ihre politische Bedeutung betrifft. An den Grenzen ihrer Einflusssphären franste die Macht der Regierenden in der Vergangenheit zuweilen aus. Heute stilisieren aber viele Politiker Grenzen als zentrales Nervensystem eines starken Staates. Sie werden immer mehr zum Politikum – frag nach bei Herbert Kickl, Benjamin Netanjahu oder Donald Trump. Der Politologe Nicholas de Genova bezeichnet dieses Verhalten als „border spectacle“: ein Spektakel, das an Grenzen inszeniert wird, um anhaltende Unsicherheit zu suggerieren.
Utopie der grenzenlosen Welt
Mitte der 1990er gab es die Hoffnung, dass große Grenzkonflikte nur noch Kapitel in Geschichtsbüchern füllen würden. Der Eiserne Vorhang war gefallen, das Inkrafttreten des Schengener Abkommens machte Pass- und Grenzkontrollen in Teilen Europas obsolet, die Europäische Union begann sich politisch tiefer zu integrieren. Durch die Entkolonialisierung und den Zerfall von Mehrvölkerstaaten wie der Sowjetunion oder Jugoslawiens entstanden dutzende neue Staaten und internationale Grenzen. Die Anzahl von Grenzbarrieren stieg zwischen 1989 und 2001 aber lediglich von 16 auf 19. Die Globalisierung nahm Fahrt auf; in einer vernetzten Welt, die global Handel betreiben möchte, würde sie durch Wartezeiten an Grenzen empfindlich eingebremst. Zahlreiche Ökonomen, Politiker, aber auch viele der renommiertesten Geopolitikforscher sahen den Beginn des Zeitalters der grenzenlosen Welt gekommen. Knapp 30 Jahre später muss man konstatieren, dass diese schöne, wenngleich etwas eurozentristische und naive Utopie krachend zu scheitern droht. Ging es in den 1990ern noch fast ausschließlich um Vorteile einer globalisierten Welt, so werden heute negative Auswirkungen in den Mittelpunkt gerückt – etwa Fluchtkatastrophen aufgrund des Klimawandels. Befeuert durch die Angst vor transnationalem Terrorismus sowie vor Menschen-, Drogen- und Waffenschmuggel stieg die Zahl von Grenzbarrieren wie Mauern und Zäunen an internationalen Grenzen seither auf mehr als 70 an. Vor allem reichere Staaten schotten sich ab – gefordert oft just von Politikern und Menschen, die eigentlich fernab der Grenzregionen leben.
Die Abschottung verursacht wirtschaftliche Einbußen und zunehmende Entfremdung auf sozialer Ebene. Beispiele entlang der Grenze zwischen den USA und Mexiko zeigen, was von derart isolierten Regionen künftig zu erwarten sein wird. Die ökonomisch schwächere Seite verarmt, der Schmuggel von Waren und Menschen blüht, die Kriminalitätsrate steigt. Die reichere Seite hält ihren Standard mit Mühe und oft nur deshalb, weil das Militär und die Überwachungsindustrie Einzug hält – Techniker, Polizisten und Experten der großen Rüstungsunternehmen.
Zukunftsaktie Grenzsicherheit
Lockheed Martin, Airbus, Thales, Boeing – die Unternehmen, die während des Kalten Krieges noch Staaten mit Panzern, Handfeuerwaffen und Flugzeugen belieferten, realisierten zuletzt das geschäftliche Potenzial der Militarisierung internationaler Grenzen. Mit rund 26.000 Kilometern sind heute bereits etwa zehn Prozent dieser Grenzen militärisch gesichert – Tendenz steigend. Mehrere Tausend Kilometer davon sind schon mit modernster Technologie ausgestattet – viele weitere werden ebenfalls bald mit Drucksensoren, Drohnenüberwachung, GPS-Satellitenvernetzung und Batterien von Wärmebildkameras ausgestattet sein.
Menschen, die auf geregeltem Weg Grenzen überqueren, müssen im Namen angeblicher Sicherheit künftig noch radikaler auf ihre Persönlichkeitsrechte verzichten. Schon heute liefern Reisende am Flughafen Fingerabdrücke ab. Iris- und Nacktscans sind fast schon obligatorisch. Bevor sie überhaupt so weit kommen, wurden bereits mithilfe von Verhaltenserkennungsprogrammen sämtliche Bewegungen aufgezeichnet. Wer gähnt, pfeift oder scheinbar arrogant auftritt, erhält Strafpunkte vom System. Sind es zu viele, wird ins Verhörkammerl gebeten. Bald schon werden erhitzte Wangen von Wärmebildkameras registriert und Pupillenveränderungen beurteilt.
Lungenscan und Gutmenschenpass
Der Elektrochip aus dem Reisepass wird in absehbarer Zeit direkt unter die Haut eingepflanzt sein, Kreditkarteninformationen sind an der Grenze abzuliefern, damit Verwaltungsstrafen direkt abgebucht werden können. Heute noch unzuverlässige Systeme werden sich technisch verbessern, amtsbekannte Gefährder und international gesuchte Verbrecher werden wohl tatsächlich häufiger geschnappt. Den Löwenanteil rausgefischter Flugreisender werden aber wohl eher berauschte Urlauber oder nervöse, von Flugangst geplagte Menschen bilden. Und es wird immer noch möglich sein, sich aus Duty-freeArtikeln Rohrbomben zu basteln.
Staaten haben dennoch erkannt, dass inszenierte Spektakel an der Grenze eine schier unerschöpfliche Quelle an Informationen bergen. Auch deshalb will Pakistan beim Visaantrag schon heute die Blutgruppe und die Wehrdienstdauer wissen. Papua-Neuguinea fordert gar ein Röntgenbild der Lunge, einen beglaubigten HIV-Test und eine Bescheinigung der Polizeibehörde, die bezeugt, dass man ein „gutes Wesen“hat. Wer beim Antrag lügt, kann später leicht abgeschoben werden.
Wohin das Spektakel an Grenzen künftig noch führen wird? Man wird sich noch wundern, was alles möglich ist, wenn Überwachungsfanatiker ihre Fantasien ausleben dürfen. Solange es geschickt als Beitrag zur Grenzsicherheit verkauft und inszeniert wird, dürfte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung das aber wohl akzeptieren, ja sogar gutheißen.