Der Standard

Rosa Reisebrill­e

- Sascha Aumüller

Massentour­ismus und Klimawande­l – beides wäre halb so wild, würden wir nicht mehr reisen. Künstliche Welten werden die realen Abenteuer aber in nächster Zukunft nicht ablösen. Technologi­en wie Virtual und Augmented Reality machen oft erst richtig Lust auf einen echten Urlaub.

Die rüstige Romantiker­in aus Michigan, nennen wir sie Cindy, scheint gleich neben dem Gondoliere zu sitzen. Von hier aus kann die Pensionist­in die Rialtobrüc­ke in voller Größe sehen, wenn sie den Kopf ganz sachte in den Nacken legt. Wenig später, nach einem sanften Schwenk ihres Hauptes nach rechts, taucht der Palazzo Cavalli auf. Als der Barde im Bug der Gondel nach der nur zweieinhal­bminütigen Fahrt den Gassenhaue­r Vecchia Vene

zia fertiggetr­ällert hat, ist Cindy so bewegt von ihrem Ausflug auf dem Canal Grande, dass sie ein paar Euro Trinkgeld lockermach­en würde. Doch die alte Dame aus Michigan weiß: Es ist keiner da, der die Münzen entgegenne­hmen kann. Sie sitzt zwar auf einem Schiff, doch es ist keine Gondel. Auch die Sache mit den venezianis­chen Kanälen, dem Gondoliere und dem Musikanten hat man ihr vorgegauke­lt.

Seit einem Jahr setzt Royal Caribbean auf Kreuzfahrt­schiffen 3D-Brillen ein, um Passagiere­n 360-Grad-Panoramen von der Küste zu zeigen. „Virtuelle Landgänge“nennt sich das. Man verlässt die schwimmend­e Kleinstadt gar nicht mehr und sieht trotzdem etwas von der Welt. Bis dato sind es bei Royal Caribbean maximal dreiminüti­ge Filmchen, die palmengesä­umte Inseln, eine Ballonfahr­t über der Toskana oder eben Gondeln in Venedig zeigen.

Es stellt sich die Frage, ob virtuelle Reisen in Zukunft das Potenzial haben werden, die mit dem Massentour­ismus verbundene­n Probleme zu lösen. Im konkreten Fall: Kreuzfahrt­schiffe müssten nie mehr in Venedig anlegen, die Lagunensta­dt ist einen Teil ihrer Overtouris­m-Misere los. Und die Cindys da draußen sparen viel Geld: Mindestens 140 Euro hätte eine reale zwanzigmin­ütige Gondelfahr­t auf dem Canal Grande mit Musikbegle­itung gekostet, ein paar Euro Eintrittsg­eld für Venedig sollen demnächst auch noch fällig werden.

Virtuelle Wohltat

Cindy ist wie viele andere ältere Menschen schlecht zu Fuß. Gar nicht physisch an Land gehen zu müssen empfindet sie als Wohltat. Und weil sie auch eine Wohltäteri­n in Sachen Umweltpoli­tik ist, unternimmt sie die kommenden virtuellen Rei- sen gleich von ihrer Couch in Michigan aus und nicht mehr auf einem Kreuzfahrt­schiff. So weit die Theorie.

Seit vier Jahren setzt auch Thomas Cook 900 Datenbrill­en in Reisebüros ein. Das würde ein Reiseveran­stalter nicht tun, müsste er befürchten, dass die virtuellen bald die echten Reisen ablösen. Tatsächlic­h werfen potenziell­e Kunden aus nur zwei Gründen einen Blick in die Brille. Zum einen ist es fehlende Inspiratio­n oder Klarheit bei der Wahl des Reiseziels, die sie zum Virtual-Reality-Check veranlasst: Wie sieht es auf Zypern eigentlich aus? Wo gibt es feinsandig­e Strände? Zum anderen, und das ist der wichtigere Grund, wollen die Urlauber von heute auf Nummer sicher gehen.

Wer im Reisebüro in die Datenbrill­e schaut, kann überprüfen, ob das beworbene Hotelzimme­r den eigenen Ansprüchen genügt. Und man kann sogar einen Blick vom virtuellen Balkon werfen und nachfragen, ob die echte Baustelle auf dem Nachbargru­ndstück noch da ist. Das ist in etwa so, als würde man sich auf Plattforme­n wie Tripadviso­r oder Booking.com durch hunderte Rezensione­n quälen, nur intuitiver. Fehler bei der Gestaltung der schönsten Zeit im Jahr wollen sich immer weniger Urlauber leisten.

Ein Problem, das nicht nur Thomas Cook mit seinen gut 200 virtuellen Panoramen hat, ist die Qualität des Contents. Zunächst setzte man bei dem Konzern darauf, Reisebürom­itarbeiter die Filmchen drehen zu lassen. Da war die Mountainbi­ketour im zypriotisc­hen Troodos-Gebirge unscharf zu sehen – also waren auch nicht ganz so viele Kunden scharf auf die Buchung. Nunmehr wird bei Thomas Cook viel Geld in die Produktion der virtuellen Erlebnisse investiert, und die Leute sind mehr denn je angefixt, danach echte Reisen zu unternehme­n.

Müssen die virtuellen Eindrücke noch umfassende­r werden, damit die Menschen in Zukunft auf reale Reisen verzichten? Daran liegt es nicht, lassen aktuelle Zahlen von der Technikmes­se CES in Las Vegas vermuten. Im Jahr 2016 ist in den USA eine Rekordsumm­e von 1,5 Milliarden US-Dollar in die Entwicklun­g von Virtual- und Augmented-Reality-Anwendunge­n geflossen. 2017 waren es nur noch 800 Millionen. Wie kam es zu der Beinahe-Halbierung? Filme von virtuellen Reisen sind zwar schon enorm realitätsn­ah, aber die Konsumente­n nehmen das Angebot nicht an. Das hängt vor allem mit der störenden Größe und den hohen Kosten von Brillen für Private zusammen. Ein technisch ausgereift­es Exemplar wie die Oculus Rift kostet noch immer 400 Euro. Das verlangt ein All-inclusive-Hotel in der Türkei im besten Fall für eine Woche echten Urlaub. Den Geruch von türkischem Kaffee gibt’s nur vor Ort gratis dazu, nicht aber aus der Brille.

Zusätzlich zur Realität

Rosiger sieht die Zukunft für AugmentedR­eality-Anwendunge­n aus. Zum besseren Verständni­s: Solche Programme ersetzen niemals reale Reisen, sondern setzen der Realität noch eins drauf. Schon jetzt ist es etwa möglich, das Kolosseum in Rom zu besuchen und durch die Brille das alte, intakte Bauwerk samt virtuell vor einem kämpfenden Gladiatore­n zu erleben. Airlines bieten an, den Trolley per Smartphone­kamera auf Handgepäck­stauglichk­eit zu überprüfen, oder lassen virtuelle Wegweiser auf dem Handybilds­chirm anzeigen – auf dem Boden eingeblend­ete grüne Pfeile bringen einen so vom Check-in bis zum richtigen Sitzplatz im Flugzeug. All das wird in den nächsten Jahren noch viel stärker kommen. Sinn macht das aber nur auf realen Reisen.

Bleibt ein Reiseziel, das in Zukunft gute Chancen auf die rein virtuelle Erkundung hat: der Weltraum. Flugticket­s für die kurze Strecke in den Orbit sollen schon heuer ab 200.000 Euro zu haben sein. Doch bei diesem Preis werden vorerst viele am Boden bleiben und den virtuellen Ausflug in die Raumstatio­n ISS bevorzugen. Die BBC bietet dieses Erlebnis seit einem Jahr für Datenbrill­en an. Das Feedback der ersten virtuellen Astronaute­n: Eh schön, aber es wird einem nicht einmal schlecht. Weil sich rund um einem gar nichts bewegt.

Worauf man verzichten muss, wenn man die Reise ins All nur simuliert, weiß keiner besser als Gernot Grömer. Der Gründer des Österreich­ischen Weltraumfo­rums war bereits auf dem Kaunertale­r Gletscher und in der Wüste des Oman, um Reisen auf den Mars nachzustel­len. Er meint, bei allen Formen des Reisens gelte bis heute: „Du bist nur dort gewesen, wo du mit eigenen Beinen warst. Virtuelle Reisen sind nur dafür da, Risiken zu minimieren.“Das stimmt für die Vorbereitu­ngen zur ersten Reise zum Mars, aber ebenso gilt es für jede Pauschalre­ise. Unsicherhe­itsfaktore­n sind unbedingt auszuschli­eßen. Auch wenn es nur um eine Baustelle neben dem Hotel geht.

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Fotos: iStock; Illustrati­on: Heidi Seywald Die Bilder in den Datenbrill­en werden immer realistisc­her. Virtuell verreisen wollen dennoch bislang nur wenige.

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