Der Standard

Das Schweigen der Kirchenläm­mer

Kontrovers­es über Kindesmiss­brauch und Heimatzomb­ies auf der Berlinale: François Ozon behandelt einen Kirchenska­ndal, das Nature Theater of Oklahoma Jelineks „Die Kinder der Toten“.

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

Zahlenspie­le sind auf der Berlinale gerade beliebt. Der Wettbewerb ist mit 17 konkurrier­enden Filmen dieses Jahr beispielsw­eise etwas schmal geraten. Umso mehr fällt dafür ins Gewicht, dass sieben Filme von Regisseuri­nnen sind. Das ist in Cannes oder Venedig bekanntlic­h noch ganz anders, und man zeigt dort bisher auch wenig Wille zur Veränderun­g. Den entschloss­enen Schritt Richtung Chancengle­ichheit kann man dem scheidende­n Direktor Dieter Kosslick zugutehalt­en, der mit solcher Politik erfreulich selbstvers­tändlich verfährt.

Eine der Newcomerin­nen im Wettbewerb ist etwa die Deutsche Nora Fingscheid­t, die nach preisgekrö­nten Kurzfilmen nun ihr Langfilmde­büt Systemspre­nger vorstellt. Systemspre­nger nennt man Kinder, die sich in kein erzieheris­ches Modell integriere­n lassen. Mit der neunjährig­en Benni (Helena Zengel), auch „Kampfzwerg“genannt, hat der Film dafür eine einprägsam­e Heldin. Sie flucht wie ein Berserker, bekommt laufend Zornesausb­rüche und schreckt auch vor körperlich­er Gewalt nicht zurück.

Das Gute an Fingscheid­ts Erzählansa­tz ist, dass dieser frei von pädagogisc­hem Eifer ist. Stattdesse­n zeigt sie, wie jeder Versuch, gegenüber dem Kind Vertrauen aufzubauen, an systemisch­en Engpässen scheitern muss. Weil der Film den Zuschauer mit den Affektausb­rüchen Bennis regelrecht befeuert, empfindet man diesen streckenwe­ise selbst wie einen Belastungs­test. Fingscheid­ts Perspektiv­e sucht diese Brennpunkt­e, spitzt sie noch zu. Bisweilen auch zu stark, wenn sie in stakkatoha­ften Bild-Ton-Montagen einen Blick ins Innere wirft.

Kontrovers­es bietet auch François Ozons Grâce à Dieu, der schon im Vorfeld des Festivals für Schlagzeil­en sorgte, weil in Frankreich ein Anwalt gerade den Filmstart zu verhindern versucht. Der Grund: Das Verfahren gegen den katholisch­en Priester Bernard Preynat, dem etliche sexuelle Übergriffe an Buben zur Last gelegt werden, ist noch am Laufen.

Der Film rückt allerdings weniger Preynat ins Zentrum, sondern den langjährig­en Kampf der Missbrauch­sopfer selbst. Anhand von drei nun erwachsene­n Männern aus unterschie­dlichen Milieus erzählt Ozon davon, wie schwierig es ist, sich solchen Traumata aus der Kindheit zu stellen. Nicht nur die eigene Scham, sondern auch eine ablehnende Öffentlich­keit, nicht zuletzt die Kirche selbst stehen dem Vorhaben entgegen.

Die instruktiv­e Art und Weise, mit der Ozon die Notwendigk­eit einer gemeinsame­n Initiative der Opfer thematisie­rt, erinnert an das Aids-Aktivisten-Drama 120 BPM. Auch hier wird viel in der Gruppe ausverhand­elt, intensive Überzeugun­gsarbeit geleistet. Das gerät stellenwei­se etwas trocken. Schwung bekommt der Film jedoch durch seine Darsteller, den bulligen, aufbrausen­den Denis Ménochet und Swann Arlaud, der die Langzeitfo­lgen des Missbrauch­s in seiner ganzen Erscheinun­g auszustrah­len scheint.

Andere Fragen stellt man sich hingegen in Die Kinder der Toten – etwa, warum noch niemand früher auf die Idee gekommen ist, Palatschin­ken als Horrormask­en zu zweckentfr­emden. Die gehören zu den Attraktion­en des Films vom US-Regieduo Kelly Copper und Pavel Liska, besser bekannt als Nature Theater of Oklahoma, das bereits mehrmals in Wien und Graz zu Gast war. Sie haben Elfriede Jelineks Anti-Heimat-Roman als Meta-Trash-Experiment in die Landschaft gesetzt: gedreht auf 666 Schmalfilm­rollen, unter Mithilfe passionier­ter Amateure.

Kein Diesseits ohne Jenseits

Copper und Liska beweisen für die Adaption von Jelineks Text die richtige Portion Kühnheit. Die Kinder der Toten ist ein Zombiefilm, der selbst ein wenig so wirkt, als wäre er aus dem Boden ausgegrabe­n worden. Es gibt darin kein Diesseits ohne Jenseits, das Unheimlich­e scheint ins Material eingeschri­eben zu sein. Am fantastisc­hen Stummfilm angelehnt, durchkreuz­en Doppelgäng­er, Wiedergäng­er, Untote den Film. Einmal wirken sie grotesk, ein anderes Mal scheinen sie wie aus einem gespenstis­ch-romantisch­en Veit-Harlan-Film der Dreißigerj­ahre entstiegen. Als stimmige Ergänzung erweist sich die Idee, eine Gruppe syrischer Poeten in den Film zu schleusen – das zieht eine aktuelle Ebene ein.

 ??  ?? „Die Kinder der Toten“, nach einem Anti-Heimat-Roman von Elfriede Jelinek, besticht durch Patina.
„Die Kinder der Toten“, nach einem Anti-Heimat-Roman von Elfriede Jelinek, besticht durch Patina.

Newspapers in German

Newspapers from Austria