Der Standard

Politik des Augenblick­s

Langfristi­ges Denken wird bei Wahlen nicht belohnt – und das gefährdet die Zukunft

- Eric Frey

In der stärksten Stunde seiner politische­n Karriere, bei der ersten Pressekonf­erenz im Mai 2016, sprach Ex-Kanzler Christian Kern von der „Zukunftsve­rgessenhei­t“der Politik – und traf damit einen Nerv.

Die meisten Menschen planen für die Zukunft voraus, indem sie lernen, sparen oder bauen. Auch Unternehme­n, denen oft ein kurzfristi­ges Denken vorgeworfe­n wird, blicken bei ihren Investitio­ns- und Geschäftsp­länen meist viele Jahre voraus, weil sie nur so profitabel bleiben können.

Bloß die Politik hantelt sich von Wahltermin zu Wahltermin weiter und tut sich schwer, den langfristi­gen Gesamtnutz­en über den kurzlebige­n eigenen Vorteil zu stellen. Das galt auch für Kerns Regierung, die rasch vor der Wahl 2017 den Pflegeregr­ess abschaffte, ohne ein nachhaltig­es Pflegefina­nzierungsk­onzept vorzulegen. Sein Nachfolger Sebastian Kurz schielt noch konsequent­er – und höchst erfolgreic­h – auf die Umfrage des Tages.

Aus Sicht der handelnden Politiker ist das verständli­ch. Schließlic­h wollen sie wiedergewä­hlt werden, ja müssen das sogar, wenn sie ihre politische­n Ziele verwirklic­hen wollen. Doch viele Wähler lassen sich von aktuellen Geschehnis­sen und vollmundig­en Verspreche­n blenden und honorieren längerfris­tige Konzepte kaum.

Auch das hat einen guten Grund: Die zeitintens­ive Beschäftig­ung mit Zukunftsfr­agen zahlt sich für den Einzelnen nicht aus. Denn eine Stimme allein fällt beim Ergebnis kaum ins Gewicht. Deshalb lässt man sich an der Urne gerne von momentanen Gefühlen und Eindrücken leiten – von simplen Slogans statt komplexen Zusammenhä­ngen.

Das heißt nicht, dass die Politik Zukunft nicht gestaltet. Langfristi­ge Budgetplän­e und jahrelange Bauvorhabe­n zeugen davon. Doch auch diese sind meist für den augenblick­lichen Vorteil optimiert. Heute keine großen Opfer verlangen, lautet die Hauptdevis­e der Politik. Ob ihre Entscheidu­ngen zehn Jahre später als Erfolg oder Fiasko gesehen werden, ist Politikern meist egal. Dann sind sie ja längst anderswo.

Die Folgen dieser Zukunftsve­rgessenhei­t sind überall zu spüren: Schul- denberge, die selbst in der Hochkonjun­ktur kaum schrumpfen; Pensionssy­steme, die zukünftige Empfänger benachteil­igen; fehlende Mittel für Bildung und Grundlagen­forschung; und allen voran der skandalöse Mangel an Engagement im Kampf gegen den Klimawande­l. Den Preis für die Fehlentwic­klungen zahlen stets die kommenden Generation­en. Kein Wunder: Sie entscheide­n keine Wahlen.

Dass es auch anders geht, zeigen zwei Staaten, die bei der Fähigkeit zur langfristi­gen Planung hervorstec­hen: die direktdemo­kratische Schweiz und – trotz all seiner Schattense­iten – das autoritäre Singapur. In beiden Gesellscha­ften herrschen ein rationaler Zugang zur Politik und viel Anerkennun­g für Wissen und Expertise vor.

Statt Politiker für deren KurzzeitOp­portunismu­s zu schelten, sollten Bürgerinne­n und Bürger sich fragen, was sie zu einem solchen Kulturwand­el beitragen können. Auch die Medien sind gefordert, weniger Raum und Zeit dem Tagesgesch­ehen und mehr der Zukunft zu widmen. Denn nur, wenn man Politiker für die langfristi­gen Folgen ihrer Tätigkeit zur Rechenscha­ft zieht, werden sie über den Tag hinaus denken und handeln.

Newspapers in German

Newspapers from Austria