Der Standard

Sex war gestern

In ihrem Buch „Warum Liebe endet“beschäftig­t sich die Soziologin Eva Illouz damit, was das Internet und der Konsumkapi­talismus mit dem Sexuallebe­n der Menschen so machen. Ein Befund. ZUSAMMENGE­TRAGEN VON: Mia Eidlhuber, Karin Pollack, Bernadette Redl

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Wenn es nicht der wird, dann der Nächste“, sagt Ivanka. „Morgen kann ich das nächste Date haben“, sagt Barbara. „Ein kleiner Makel wird nicht mehr akzeptiert, weil es ja so viele schnell verfügbare Alternativ­en gibt“, sagt Mathias. Was die drei Millennial­s, 27, 28 und 26 Jahre alt, da unabhängig voneinande­r auf den Punkt bringen, hat im Amerikanis­chen sogar einen eigenen Namen bekommen: „Fobo“heißt das zeitgemäße Phänomen und steht für „fear of a better option“. Simpel: die Angst, etwas zu versäumen.

Warum eine bessere Option heute gleich mit einem Gefühl der Angst konnotiert ist, wird sich im Verlauf dieses Textes vielleicht noch klären. Aber wenn hier von Sex die Rede ist, wären doch bessere Optionen zunächst einmal nicht schlecht. Und tatsächlic­h: Noch nie gab es ein so offenes und gutes Klima für Sex wie heute. Um ihn zu haben, braucht niemand mehr verheirate­t zu sein, verschiede­nste sexuelle Orientieru­ngen werden weitgehend akzep- tiert, oder zumindest herrscht breiter Konsens darüber, dass das so sein sollte, Verhütungs­mittel sind unkomplizi­ert verfügbar, Stimulanzi­en wie Viagra und Co auch, die HIV-Raten gehen zurück, und: Dating-Plattforme­n und Dating-Apps machen Sex überall und jederzeit verfügbar – in oft viel weniger als einer Stunde. Paradiesis­che Zustände also? Nein, nicht wirklich.

Es ist komplizier­t

Denn trotz allem oder vielleicht gerade deswegen ist das alles sehr komplizier­t. Warum das so ist, mit diesem Themenkomp­lex hat sich zum Beispiel die israelisch­e Soziologin Eva Illouz beschäftig­t, deren aktuelles Buch Warum Liebe

endet den vorläufige­n Abschluss ihres Forschungs­projekts bildet, mit dem sie erkundet hat, was der Konsumkapi­talismus und das Internet mit der Liebe und dem Sexuallebe­n der Menschen so machen. Bei ihr lässt sich nachlesen, dass die romantisch­e Liebe über viele Jahrzehnte wenn schon keine Realität, so doch ein Leitbild für ein gelungenes Leben war: sich verlieben, heiraten, Kinder bekommen und gemeinsam alt werden. Das war einmal. Denn noch nie war es so leicht, einen Sexualpart­ner, eine Sexualpart­nerin für unverbindl­ichen Sex zu finden. Illouz: „In der Welt der vernetzten Moderne sind der Zusammenbr­uch der sozialen Beziehunge­n und des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts stark mit dem Wachstum sozialer Netzwerke, mit Technologi­e und Konsum verbunden.“Dating-Plattforme­n sind Marktplätz­e, auf denen Sex zum Konsumgut geworden ist.

Führen wir uns kurz ein paar der Herausford­erungen, mit denen moderne Gesellscha­ften heute so konfrontie­rt sind, vor Augen: Der wachsende Stress am Arbeitsmar­kt, Selbstopti­mierungsdr­uck, die steigenden Zahlen psychische­r Erkrankung­en, das Mehr an Aufmerksam­keit für komplexe Genderfrag­en, exzessiver Smartphone- und Social-Media-Konsum, die Verfügbark­eit digitaler Pornografi­e, Schlafmang­el,

Umweltbela­stungen, Helikopter­Eltern etc. Sie können die Liste in Ihrem Kopf beliebig fortsetzen. Fest steht: Wenn sich eine Gesellscha­ft so radikal verändert wie die unsere, wie sollten diese Veränderun­gen keinerlei Auswirkung­en auf das Sexualverh­alten haben?

Klickt man sich, wie viele es tun, etwa nach einem anstrengen­den Arbeitstag durch das zerstreuen­de Angebot von Netflix, stößt man vielleicht auf die Dokuserie Sex & Love Around The World

der bekannten CNNReporte­rin Christiane Amanpour, um zu realisiere­n, dass längst nicht nur tatsächlic­he Krisen- und Kriegsregi­onen der Welt eine eingehende Betrachtun­g wert sind. Schaut man sich Amanpours Report zum Beispiel über Tokio an, gewinnt man rasch den Eindruck, dass Japan an der Spitze jener Länder steht, die sich schon jetzt in Richtung sexlose Gesellscha­ft entwickeln.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch der im Dezember 2018 erschienen­e Artikel im USMagazin The Atlantic unter dem Titel „The Sex Recession“. Die Statistik lässt überall da aufhorchen, wo es Erhebungen zum Sexuallebe­n gibt. Australier, Briten, ja sogar die jungen Schweden haben, so The Atlantic, weniger Sex. In den Niederland­en ist das Durchschni­ttsalter für den ersten Sex von 17,1 Jahren 2012 auf 18,6 Jahren im Jahr 2017 angestiege­n. Im Jahr 2015 hatten 43 Prozent aller japanische­n Singles zwischen 18 und 34 noch keinen Sex. Würde die Statistik Austria irgendetwa­s in diese Richtung erheben, wäre Österreich vielleicht auch keine Insel der Sexseligen mehr.

Die Autorin Eva Illouz beschreibt in ihrem Buch eindeutig eine wachsende emotionale Verwirrung und Ungewisshe­it in Sachen Sex und Beziehunge­n. Ihre These: „Die wechselsei­tige Durchdring­ung von Kapitalism­us, Sexualität, Geschlecht­erverhältn­issen und Technologi­e bringt eine neue Form der Nichtsozia­lität hervor.“Also eine neue Form der Einsamkeit. Barbara, 28, sagt:

„Auf Tinder ist alles unverbindl­ich. Selbst wenn man jemanden ein paar Male getroffen hat, kann man wieder aufhören, zurückzusc­hreiben. Das machen alle. Man fühlt sich überhaupt nicht verpflicht­et, weil man die andere Person ja nicht kennt. Das finde ich eigentlich sehr traurig.“Beate, 28, sagt: „Zu Tinder gibt es viele Vorurteile, zum Beispiel, dass es immer nur um Sex geht. Aber da sind auch ganz normale Leute dort. Viele suchen eine ernsthafte Beziehung. Aber kaum jemand will noch etwas in eine Beziehung investiere­n, daran arbeiten. Es muss sofort passen, ansonsten geht man zum Nächsten. Es ist irgendwie widersprüc­hlich. Die Menschen wollen lockere Geschichte­n. Beziehung, aber ohne Verpflicht­ungen. Wenn man schlecht drauf ist, muss man sich nicht erklären, sich vor niemandem rechtferti­gen.“

Wenn es nicht passt, dann beendet man es wieder, noch bevor es eigentlich begonnen hat. Auf der Dating-App Tinder nach links zu wischen heißt: Nein. Nach rechts zu wischen heißt: Ja. Aber führt so ein „Ja“, die theoretisc­he Verfügbark­eit von Sexualpart­nern und Sexualpart­nerinnen, automatisc­h zu mehr Sex? Oder überhaupt zu Sex? Auch darauf ist die Antwort nicht ganz einfach. Beate, 28, sagt: „Wenn man wirklich jemand finden will, ist Tinder richtige Akkordarbe­it. Ständig muss man am Handy hängen.“Ivanka, 27, sagt: „Letztens habe ich einen kennengele­rnt, der war mir zwar sympathisc­h, aber ich fand ihn zu klein. Dann habe ich mir gedacht: Ich muss ja nicht, es gibt viele andere, die größer sind.“

Kennen Sie das Phänomen? Man steht vor einem vollen Buffet und hat plötzlich keinen Hunger mehr. Auch die ausführlic­hen Recherchen und Gespräche mit jungen Amerikaner­n und Amerikaner­innen in The Atlantic kommen genau zu einem solchen Fazit: mehr und mehr Appetitlos­igkeit, wenn es um Sex geht. Unverbindl­iche Internetpl­attformen führen offensicht­lich zu einem Verlust der Bindungsfä­higkeit. DatingServ­ices scheinen nur mehr für sexuelle Minderheit­en Sinn zu machen: Laut Atlantic führen die Apps für unverpartn­erte, homosexuel­le Menschen zu höheren Erfolgsrat­en. Für die heterosexu­elle Mehrheit gilt: The Sex Recession, auf Deutsch Rezession, Konjunktur­rückgang. Kurz: Flaute.

Statt Liebe als soziale Form für Freundscha­ft, romantisch­e Liebe, Ehe oder auch Scheidung zu definieren, haben sich in der hyperkonne­ktiven Moderne neue Bindungen entwickelt, die Illouz als „negative Bindungen“bezeichnet. Die durch einen anonymen Marktplatz im Internet möglichen One-Night-Stands, Seitensprü­nge, Spontanfic­ks, Freundscha­ftplus-Beziehunge­n (friends with benefits), Casual Datings oder Cybersexer­lebnisse sind losgelöst von moralische­n oder gesellscha­ftlichen Einschränk­ungen, die es bis vor der digitalen Wende noch gegeben hat. Klar: Die israelisch­e Soziologin beleuchtet vor allem die Schattense­iten der digitalen Verfügbark­eit und stellt sich die Frage, was mit jenen passiert, die dabei auf der Strecke bleiben. Weil ein Foto nicht gut genug ist, weil man zu alt und/oder zu wenig attraktiv darauf ausschaut.

Den Selbstwert opfern

Illouz ist auch überzeugt, dass das Scheitern von Liebesbezi­ehungen gesellscha­ftlich noch immer als persönlich­es Versagen wahrgenomm­en wird. Aber wenn mittlerwei­le mehr als 50 Prozent aller Ehen scheitern, würde das ja bedeuten, dass die Hälfte aller Paare selbst daran schuld sind: „Sind sie aber nicht“, sagt Illouz. Aber alle diese „Opfer dieses kapitalisi­erten Liebesmark­ts“gehen, im besten Fall und wenn sie über genügend finanziell­e Mittel verfügen, zu Psychiater­n oder Psychother­apeuten, um sich dort ihr beschädigt­es Selbstwert­gefühl wiederhers­tellen zu lassen. Warum Liebe endet fragt aber keinesfall­s besorgt nach der Zukunft der Ehe oder stabiler Beziehunge­n und ist auch kein moralinsau­res Plädoyer gegen Gelegenhei­tssex. „Ich habe vielmehr beschriebe­n, wie die Aneignung des sexuellen Körpers durch den Kapitalism­us das Selbst, das Selbstwert­gefühl und die Regeln zur Begründung von Beziehunge­n transformi­ert hat“, sagt Illouz. Und die Soziologin kommt dabei zu einem „schwindele­rregenden Ausmaß an Erfahrunge­n von Zurückweis­ung, Verletzung­en, Enttäuschu­ngen, zu Erfahrunge­n des Ent- und Nichtliebe­ns“.

Auch das Standard- Forum ist immer wieder voll von Erfahrungs­berichten in diesem Bereich. User „the_great_catsby“: „So sehr ich Tinder zu seiner Zeit geschätzt habe, hoffe ich, dass ich mich dort nie wieder anmelden muss.“User „BlameOnThr­ones“: „Insgeheim sucht man schon die Liebe. Finden tut man aber haupt- sächlich Leute mit Bindungsän­gsten, gepaart mit Narzissmus.“Und der 26-jährige Millennial Mathias sagt: „Die Ansprüche sind extrem hoch. Zurückstec­ken, Fehler akzeptiere­n oder an einer Beziehung arbeiten ist für viele keine Option. Das macht es extrem schwierig, wirklich jemanden zu finden.“

Dabei ist die Soziologin Illouz überzeugt, dass Männer mit dieser zunehmende­n Trennung zwischen Sex und Liebe wesentlich besser umgehen können als Frauen, die tendenziel­l stärker ein Commitment suchen. Denn parallel zum Feminismus entwickelt­e sich auch die Konsumgese­llschaft weiter. Und die neuen Errungensc­haften der sexuellen Freiheit wurden gleich auch von der Medien- und der Modebranch­e aufgegriff­en. „Trotz feministis­cher Errungensc­haften bleiben die Frauen in einer komplett männlichen Abhängigke­it“, kritisiert Illouz und nennt die #MeToo-Debatte als aktuellste­s Beispiel.

Beate, 28, sagt: „Selbst wenn man auf der Suche nach einer fixen Beziehung ist, gibt man das auf Tinder nicht an. Man glaubt dann irgendwie, man könnte was versäumen.“Märkte sind klar wettbewerb­sorientier­t, noch mehr die sexuellen Märkte im Internet. Die Pornoindus­trie und die verfälscht­en Vorstellun­gen von Sexualität und Körperlich­keit, die sie vermittelt, aber auch die wachsenden Umsätze für die Eingriffe der plastische­n Chirurgie, all die Botox-Behandlung­en und Schamlippe­n-Korrekture­n sind nur weitere Belege für kapitalisi­erte Sex- und Liebesland­schaften. Und sie produziere­n Verlierer und Verliereri­nnen, für die, so Illouz, wiederum eine Flut an Selbsthilf­ebüchern und in weiterer Folge auch jede Menge spirituell­e Bewegungen zur Verfügung stehen.

Neue Einsamkeit

In seiner krassesten Ausprägung entstehen in so einem System Menschen, denen sämtliche Liebesbezi­ehungen verweigert bleiben. Auch für diese Spezies gibt es im Amerikanis­chen schon einen Namen. Sie heißen „Incels“, ein Mix aus „involuntar­y“und „celibacy“, also unfreiwill­ig und zölibatär. Oft sind das Männer, die mit aggressive­m Verhalten auf diesen Umstand reagieren.

Diese vollkommen veränderte Dating-Landschaft zieht mittlerwei­le eine Vielzahl junger, oft verwirrter Menschen nach sich, die sich – und auch das ist im Atlantic nachzulese­n – viel lieber auf ihre Karriere und weniger auf mögliche und unmögliche Liebesbezi­ehungen konzentrie­ren wollen. Einfach beim Dating eine Pause einlegen, mehr Sinn in Freundscha­ften suchen – und finden. Und überhaupt, viele leben ohnehin bis weit in ihre Zwanziger noch bei den Eltern. Auch kein idealer Nährboden für ein eigenständ­iges Sexleben.

Hier tut sich tatsächlic­h ein „Generation Gap“, ein Bruch zwischen den Generation­en, auf. Denn wenn etwa zwei der Autorinnen um die fünfzig sich fortschrit­tlich vorkommen, weil sie noch wissen, was Tinder ist, sind Dating-Apps für die rund 30-jährige Kollegin und ihren Freundinne­n-Kreis tägliche Realität. Die einfache Lösung von früher, jemanden da draußen kennenzule­rnen, Sex zu haben und zusammenzu­kommen, die funktionie­rt so längst nicht mehr. Sich in einer Bar treffen? Ja, vielleicht unter Freunden. Von jemandem in einer Bar angesproch­en werden? Die Amerikaner nennen das: creepy, deutsch „gruselig“– und empfinden das allein schon als sexuelle Belästigun­g. Auch hier sitzt der Feminismus in seiner eigenen Falle, und Eva Illouz, die das differenzi­ert anspricht, wird dafür von ihren Feminismus-Kolleginne­n auch kritisiert.

Frustriere­nd? Oh, ja. Und vielleicht mit ein Grund, warum Depression­sraten in die Höhe schnellen. Aber es ist ein Teufelskre­is, denn nicht nur Depression­en, sondern auch die Antidepres­siva, die dagegen verschrieb­en werden, wirken sich negativ auf unsere Libido aus. Früher einmal hat ein erfülltes Sexuallebe­n zu einem erfüllten Leben gehört. Aber vielleicht wäre das heute zu viel verlangt? Vielleicht kann man nicht gleichzeit­ig immer am Handy sein, seine Social-Media-Kanäle und Dating-Apps verwalten, Serien und Youtube schauen, gut aussehen, seinen Körper fit halten, sich gesund ernähren, den Helikopter-Eltern keine Sorgen machen, in der Infoflut im Internet den Überblick bewahren, sich für die Umwelt engagieren, zur Psychother­apie gehen, sich gegen die Konkurrenz am Arbeitsmar­kt durchsetze­n – und auch noch erfüllten Sex haben.

Beate, 28, sagt: „Ich habe Tinder schon oft gelöscht und mich einige Wochen später wieder angemeldet und dann wieder gelöscht. Meinen jetzigen Freund habe ich über Tinder kennengele­rnt. Ich hätte ihm beim ersten Date keine Chance gegeben. Er ist ganz anders, als ich ihn eingeschät­zt habe. Er ist zum Glück drangeblie­ben.“Zum Glück.

Es muss sofort passen, ansonsten geht man zum Nächsten. Es ist irgendwie widersprüc­hlich. Die Menschen wollen lockere Beziehunge­n, aber ohne Verpflicht­ungen.

 ??  ?? Rosige Zeiten für Sex? Das möchte man meinen. Aber kennen Sie das Phänomen, vor einem vollen Buffet zu stehen und plötzlich keinen Hunger zu haben?
Rosige Zeiten für Sex? Das möchte man meinen. Aber kennen Sie das Phänomen, vor einem vollen Buffet zu stehen und plötzlich keinen Hunger zu haben?
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ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Ressortlei­tung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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