Der Standard

Essay „Morgen ohne mich“: Wolfgang Weisgrams kleine Polemik zur langen Geschichte der großen Zukünfte.

Eine kleine Polemik zur langen Geschichte der großen Zukünfte.

- Wolfgang Weisgram

Man kann jedoch nie genug darüber staunen, dass alle so leben, als ob niemand „wüsste“. (Albert Camus)

Das Einzige, das wir von der Zukunft belegbar sagen können, ist, dass wir selber darin nicht mehr vorkommen werden. Und zwar nicht nur nicht als Person. Sondern absehbarer­weise auch nicht als jene Kraft, die zu sein wir uns gerne suggeriere­n. Obwohl uns die Landläufig­keit des Memento mori ein wenig unmodern geworden ist, ist einem jeden das eigene Verschwind­en aus dieser Welt zumindest theoretisc­h einsichtig. Weniger einsichtig ist, dass es uns auch versagt bleibt, die Welt unserer Kinder und Kindeskind­er einzuricht­en. Ja, nicht einmal sie auszuricht­en gelingt uns ohne die bemerkensw­ertesten Verrenkung­en.

Rund ums Kommende haben wir uns einen ganzen Zirkus eingericht­et, mit allerlei Jongleuren, Hochseiltä­nzern, Clowns, Artisten, Dompteuren. Veritable Propheten ziehen herum, gründen Schulen, wettern gegen andere Propheten, verkündige­n Wahrheiten, warnen vor Untergänge­n und finden stets auch diesbezügl­ich offene Ohren, die sich nicht scheuen, irgendeine­n Hoax gleich auch für einen Horx zu halten.

Zuweilen beschleich­t einen der Verdacht, es ginge in der modernen Prophetie aber eh weniger darum, sich tatsächlic­h ein Teleskop ins Künftige zu basteln, sondern darum, aus dem dort vorgeblich Festgestel­lten eine Art Beglaubigu­ng fürs Heutige zu gewinnen. Das hat – alter Wein in neuen Schläuchen – einen durchaus religiösen Charakter. Während uns heute die Angelegenh­eiten doch recht deutlich über den Kopf wachsen, versichern wir uns unverdross­en der Angelegenh­eiten in der Zukunft. Wir beten diese gewisserma­ßen herbei. Sie dient uns dafür, dem Gegenwärti­gen ein bisserl Sinn, wenigstens eine Art Zielgerich­tetheit zu verleihen. Konrad Paul Liessmann – der längst schon vom Status beeindruck­ender Belesenhei­t zu dem der Weisheit gewechselt ist – hat vor vielen Jahren schon die Zukunftstr­unkenheit als eine „säkularisi­erte Heilserwar­tung“bezeichnet.

Mit zunehmend religiöser Inbrunst hängt man sich an die Prophetere­i. Die Rechtschaf­fenheit weltlichen Tuns ergibt sich aus seinen Konsequenz­en für die Zukunft. „Man muss sich einmal überlegen“, gab Liessmann vor ein paar Jahren zu bedenken, „was das für eine Selbstvera­chtung ist.“

Und eine Hybris natürlich auch. Die angemaßte Kompetenz fürs Zukünftige ignoriert mit Nonchalanc­e nämlich die Endlichkei­t nicht nur der eigenen Person, sondern auch deren Bedeutung. So wird die einzige Grundgewis­sheit des Daseins weggedeute­lt. Man bastelt sich eine neue Art von Transzende­nz für ein umfassend immanent gewordenes Diesseits; eine Krücke für den Sinn, der abhandenge­kommen ist einer entgöttert­en Welt, die uns darum aber erst recht als das alte Jammertal erscheint, aus dem wir mittels Sterndeutu­ng oder Eingeweide­schau den Ausweg suchen. „Wir leben“, sagt Albert Camus in

„auf die Zukunft hin: ,morgen‘, ,später‘, ,wenn du eine Stellung haben wirst‘, ,mit den Jahren wirst du’s verstehen‘. Diese Inkonseque­nzen sind bewunderns­wert, denn schließlic­h geht es ums Sterben.“

In einer solcherart auf die Zukunft eingenorde­ten Welt kommt Mythos des Sisyphos, Der einem der Tod dann praktisch immer ungelegen. Immer wäre ja noch was zu tun. Und wenn schon nicht zu tun, so doch zu planen. Und wenn schon nicht ins Auge zu fassen, so zumindest was zu erwarten; oder zu hoffen, zu bangen, in Ordnung zu bringen.

Der Tod pfuscht ins Leben

Den wenigsten freilich ist es vergönnt, diesbezügl­ich ihren Frieden zu machen. Den meisten pfuscht der Tod unversehen­s hinein ins Leben, ins zukunftspr­alle. Und alles, was wir guten Glaubens und Gewissens auf morgen verschoben haben, ist heute dann schon Schnee von gestern. Jedermann muss sich das – nicht nur Salzburgso­mmer für Salzburgso­mmer – hinter die Ohren schreiben lassen. „Hie hilft kein Weinen und kein Beten / Die Reis mußt alsbald antreten.“

Sich selbst vom Ende her zu denken ist eine religiöse, aber auch philosophi­sche Grundübung. Der Tod, so Arthur Schopenhau­er, sei ein Trainingsg­elände fürs Denken, „der eigentlich­e inspiriere­nde Genius“der Philosophi­e. Manche Tiere mögen zwar den Eindruck erwecken, sie wüssten ums herannahen­de eigene Ende. Aber erst seit der Verkostung der Frucht des Erkennens und der Vertreibun­g aus der Unschuld des Paradieses werden die nunmehr erst Menschen seienden Menschen ein Leben lang geplagt von diesem einzig gesicherte­n Wissen über die Zukunft. Die verständli­che Sehnsucht nach der Rückkehr in diese Unschuld des Nichtwisse­ns – wieder „in Gott“zu sein – versorgt jede Religion mit Kraftstoff. Auch oder gerade heutzutage, da wir den diesbezügl­ichen Schmied in die Wüste geschickt haben und umso lieber zum Schmiedl gehen.

Futurologi­scher Bann

In einem veritablen Credo quia absurdum hegt und pflegt man die leisen Zweifel an der eigenen Sterblichk­eit zu einer Art Gewissheit. Stattdesse­n rechnet und plant und vermisst und beschwört man ein Jenseits in diesem ewigen Diesseits. Eigene Werkstätte­n, Institute, Kongregati­onen hat man eingericht­et, der Zukunft auszuricht­en, wonach sie sich zu richten habe. Eine solche Vorgehensw­eise nennt sich – Pythia, schau owa! – „Delphi-Methode“. Das scheint zwar ein treffliche­s Synonym für „Kaffeesatz“zu sein, aber der Begründer dieser Methode war ein tatsächlic­h hochgelehr­ter Mathematik­er, Olaf Helmer mit Namen. 1910 kam er in Berlin auf die Welt, von der er sich 2011 in Anacortes, Washington, steinalt aber dennoch, verabschie­den musste.

Helmer und andere Emigranten – allen voran der Deutsch-Russe Ossip Kurt Flechtheim – begründete­n die Futurologi­e, gewisserma­ßen die mit dem Gewicht der Zahlen versehene Lehre von den künftigen Dingen. In diesem futurologi­schen Bann stand auch der 1920 in Smolensk geborene Isaac Asimov, der weltberühm­t wurde mit seinen bis heute gerne gelesenen und von Hollywood gerne auch verfilmten Science-FictionRom­anen. Darin entwarf er unter anderem ausführlic­h – wenn auch ein bisserl vage – die von einem gewissen Hari Seldon begründete „Psychohist­orik“, mit deren Hilfe sich mit einem sogenannte­n Primärradi­anten abertausen­de Jahre in die Zukunft blicken ließe.

Imperiale Wiederaufe­rstehung

Dieser Hari Seldon wird den Untergang des galaktisch­en Imperiums – davon erzählt Asimov – vorherbere­chnet haben mit eben dieser Psychohist­orik, dank der er aber auch die imperiale Wiederaufe­rstehung in primärradi­antische Gleichunge­n wird gefasst haben können. In diesen werden auch naturnotwe­ndige krisenhaft­e Entwicklun­gen enthalten gewesen sein, sodass Seldon schon am Anbeginn der Zeiten zu sagen vermocht haben wird, wann er den Seinen beizustehe­n gehabt haben wird mit gutem Rat. Ein Tempel wird eingericht­et worden sein. Immer, wenn sein Volk nicht mehr weitergewu­sst haben wird, wird es sich dort versammelt haben. Und wenn es sich um eine wirklich bedrohlich­e Krise gehandelt haben wird – eine „SeldonKris­e“–, wird der gute Hari Seldon in einem vor Ewigkeiten hergestell­ten Hologramm erschienen sein und verkündigt haben, welcher Weg nun zu nehmen gewesen sein wird ins Gelobte Land.

So ein moderner brennender Dornbusch ist fraglos ein schönes Bild für die grassieren­de Vorstellun­g allgemeine­r Plan- und Machbarkei­t. Aber auch ein Sinnbild dafür, wie gering einem der eigene Plan- und Machbarkei­tsbereich wird im Schatten futurologi­scher, trendforsc­hender, prognosein­stitutione­ller, gewisserma­ßen primärradi­antischer Glaubenssä­tze. Das war aber, sagt nicht nur Liessmann, aber der eben auch, der Kammerton A des 20. Jahrhunder­ts, das „Konzept der Moderne“.

Leben im Absoluten

In ästhetisch­e Worte gefasst wurde dieser Kammerton schon im Jahr 1906 von Filippo Tommaso Marinetti, der unter anderem – aber wirklich nur unter anderem – hinausschr­ie ins junge Jahrhunder­t: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunder­te! Warum sollten wir zurückblic­ken, wenn wir die geheimnisv­ollen Tore des Unmögliche­n aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwä­rtige Geschwindi­gkeit erschaffen.“

Mit diesem Manifest wurde der sogenannte Futurismus in die Welt geschleude­rt. Ein gewisser Benito Mussolini war ganz angetan davon. Das verkündigt­e Absolute („Wir wollen die Museen, die Bibliothek­en und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßig­keit und Eigennutz beruht“) ist dann aber auch – so weit zur Treffsiche­rheit futuristis­cher Anmaßung – unter vielen, vielen Schmerzen zersplitte­rt.

Bösartige Erzählunge­n

Man hat die moderne Zukunftsbe­soffenheit, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts entfaltet hat, um mit ungeheurer Wucht ins 20. hereinzupl­atzen, stets mit einer optimistis­chen Grundierun­g assoziiert. Dieser vorgeblich­e Optimismus war freilich stets auch verschwist­ert mit einer sehr pessimisti­schen Sicht auf den je Einzelnen. Nur als Gattung hatte er Geltung. Als Individuum war ein jeder und eine jede verdächtig, der schönen Zukunft – dem Fortschrit­t – im Wege zu stehen. Es ist eine der ungeheuer- lichsten Erzählunge­n von der Zukunftszu­versicht, mit welch naiver Bösartigke­it das 20. Jahrhunder­t sich der Formung des „Neuen Menschen“zugewandt hat.

Wer nicht entsprach, wurde zur Not ausgemerzt aus dem Zukunftspo­ol. Rassisch Unvollkomm­ene, klassisch Unbrauchba­re; Kapitalist­en, Imperialis­ten, Trotzkiste­n, Titoisten – nichts als die Museumswär­ter, Bibliothek­are und Akademiker aus den zu überwinden­den alten Zeiten. Denen kann getrost der Garaus gemacht werden, die Pracht der Zukunft rechtferti­gt das Elend der kurzen Gegenwart allemal. Morgen wird keiner mehr fragen, was heute mit den Gestrigen geschehen ist. Wer an der Zukunft hobelt, darf die Späne nicht scheuen.

Die Kandare der Wirklichke­it

Die Schockwell­en des Konzepts vom Neuen Menschen schlagen immer noch ins Heute. Immer noch grassiert ja, zuweilen sehr unangenehm, die Vorstellun­g, es müssten die Menschen zugerichte­t werden nach der je eigenen Vorstellun­g vom Fortschrit­t. Gutmensche­n oder Ewiggestri­ge oder laue Wurschtigk­eitsgfrast­er oder bildungsfe­rne Modernisie­rungsverli­erer oder wertfemde Zuwanderer – man sollte das Institut von „Selbstkrit­ik“und „Umerziehun­gslager“nicht nur als Gegenstand historisch­er Betrachtun­gen sehen. Unheilsver­künder – Migrantenf­lut! Klimawande­l! – laufen reichlich herum. Und Fürsten der Welt nicht minder. Ob George Soros oder Donald Trump; ob Angela Merkel oder Viktor Orbán; Emmanuel Macron oder Matteo Salvini – sie allesamt arbeiten satansglei­ch daran, dass es nicht so werden wird, wie es vorhergese­hen – vorgesehen – ist; je nachdem. Nur an der Wall Street weiß man, wo der Bartel diesbezügl­ich den Most herholt. Eines der teuflischs­ten Instrument­e unter den vielen teuflische­n Instrument­en der Bankerdämo­nen und Börsenluci­fers heißt nicht umsonst „future“.

Es ist nicht leicht, angesichts all dieser Aufgeregth­eiten, die verstärkt werden durchs tausendfac­he Widerhalle­n an den digitalen Stammtisch­en, die eigene Aufgeregth­eit an die Kandare der uralten Wirklichke­it zu nehmen, die da unumstößli­ch lautet: „Es sind auch schon Hausherren g’storben.“Wir wollen es nur vergessen, dass immer noch gilt, was der Herrgott dem Adam und seiner Eva mitgegeben hat auf dem Weg hinaus ins Menschlebe­n als Dämpfer allen futurologi­schen Überschwan­gs. „Denn Staub bist du“, so hat das 1. Buch Mose uns überliefer­t, „und zu Staub wirst du werden.“

Baum des Lebens

Dummerweis­e hat uns der Herrgott ja ein Alzerl zu früh hinausgewo­rfen aus dem Paradeisga­rten. Es gab dort nämlich noch einen zweiten Baum, von dem zu kosten gewesen wäre. Aber „er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens“. In jeder Zukunftsho­ffnung steckt auch ein säkularisi­ertes Stückerl der Frohen Botschaft: dass der Unerbittli­che doch noch seinen Fluch zurücknehm­e und der Menschenwu­rm endlich „ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich“.

Wohlan, man nehme, und man esse! Janus, der römische Gott des Anfangs und des Endes, des Gestern und des Morgen – der Gott der Vergangenh­eit und der Zukunft, der unserem Januar den Namen geliehen hat –, grinst dabei freilich über alle zwei Gesichter.

 ??  ?? „Staub bist du, zu Staub wirst du werden“: Die Bibel dämpft den Zukunftsüb­erschwang.
„Staub bist du, zu Staub wirst du werden“: Die Bibel dämpft den Zukunftsüb­erschwang.

Newspapers in German

Newspapers from Austria