Der Standard

Ständig schauen wir auf das Display, auch wenn wir gerade nichts brauchen. Die Folge: Wir sind abgelenkt, unkonzentr­iert, gestresst. Doch die Zeit der leuchtende­n Bildschirm­e könnte bald vorbei sein.

- Lisa Breit

Das erste Mal, um den Wecker auszuschal­ten, das letzte Mal, um noch schnell eine Whatsapp-Nachricht zu verschicke­n: 88 Mal pro Tag greifen Menschen durchschni­ttlich zu ihrem Smartphone, wie deutsche Forscher herausgefu­nden haben. Und wenn sie es einmal weglegen, sitzen sie im Büro vor dem Computer oder mit dem Tablet in der Hand vor dem Fernseher. Ein digitaler Dauerstres­s.

Doch die Zeit der Bildschirm­e neigt sich womöglich dem Ende zu, das sagt zumindest der Unternehme­r Markus Albers. In seinem Buch Digitale Erschöpfun­g beschreibt er, wie ihn seine Abhängigke­it vom Smartphone dazu veranlasst hat, nach Alternativ­en zu suchen. Ein ganzes Kapitel widmet er Technologi­en, die es ersetzen könnten: Virtual und Mixed Reality. Bei der virtuellen Realität, kurz VR, taucht der Nutzer mittels Datenbrill­e in eine komplett andere Welt ein. Er kann nach Machu Picchu oder durchs Weltall reisen. Bei der Mixed Reality sieht man seine Umgebung wie sonst auch, virtuelle Elemente – Bilder, Text oder anderes – werden als Hologramme zusätzlich vor den Augen eingeblend­et. MR-Brillen gleichen futuristis­chen Sonnenbril­len (siehe Illustrati­on).

Sechs virtuelle Monitore

Jeder, der das schon einmal ausprobier­t hat, ist von der Erfahrung überwältig­t. Deshalb werden die Datenbrill­en bereits in der Unterhaltu­ng, der Werbung und für Ausbildung­szwecke eingesetzt. Und bald möglicherw­eise auch in anderen wichtigen Lebensbere­ichen wie der Arbeit, schreibt Buchautor Albers. Er stützt sich auf die Einschätzu­ng vieler Experten, beispielsw­eise des Technikvor­denkers Kevin Kelly. Der Gründer des Magazins Wired hat für einen Artikel VR- und MR-Brillen im großen Stil getestet und kommt zu dem Schluss: „Wenn sie die Realität einmal perfekt abbilden, werden sie alle anderen Technologi­en ersetzen.“

Was ist dran? Werden wir bald mit den Datenbrill­en im Bus sitzen? Im Büro, statt den Computer einzuschal­ten, uns unsere E-Mails ALTERNATIV­ENSUCHE: vor die Augen projiziere­n lassen?

Was dafür spricht: Fast alle großen Technologi­ekonzerne investiere­n in die Weiterentw­icklung der Technologi­e. Microsoft arbeitet etwa daran, dass sich Mitarbeite­r Outlook, Word, Excel und Co in 3D anzeigen lassen können. Ein Demovideo zeigt ein Meeting, bei dem alle Teilnehmer eine Datenbrill­e tragen.

Das Schanghaie­r Unternehme­n Pygmal Technologi­es hat eine Software namens Space vorgestell­t. Mit einer VR-Brille kann sich der Nutzer sechs riesige virtu- Künftig lassen sich Menschen ihre E-Mails womöglich projiziere­n. elle Monitore gleichzeit­ig anzeigen lassen, zwischen denen er hin- und herspringe­n kann. Ein Journalist des Tech-Magazins Fast Company, der die Applikatio­n ausprobier­t hat, kommt allerdings zu einem ernüchtern­den Ergebnis: Nach wenigen Minuten tat ihm der Nacken weh, und das Bild wurde unscharf.

Mankos wie diese seien der Grund, warum sich die Technologi­e bisher noch nicht durchgeset­zt hat, sagt Matthias Husinsky, Professor für Digitale Technologi­en an der Fachhochsc­hule St. Pölten. Die bisher vorgestell­ten Produkte sieht er erst als Vision dessen, was künftig möglich sein wird. Sie müssten technisch erst verfeinert werden. Bei MR-Brillen zum Beispiel sei der Bereich, in dem man Informatio­nen einblenden kann, relativ klein. „Der Mensch hat, wenn er geradeaus sieht, ein Blickfeld von etwa 180 Grad. Diese Displays können aber nur 30 bis 40 Grad ausnutzen.“Zudem seien die Geräte klobig. „Man muss schon mutig sein, so etwas im Alltag zu tragen, weil man herausstic­ht.“Nach längerem Tragen verursacht­en sie außerdem Nackenschm­erzen, wie auch der Fast-CompanyJou­rnalist feststelle­n musste. „Wenn die Brillen erst einmal klein und unauffälli­g sind, wenn sie sich gut in den Alltag einfügen, werden sie uns einholen“, ist Husinsky überzeugt. Wann das sein wird, darauf will er sich nicht festlegen. „Aber in den nächsten zehn bis 15 Jahren wird sich sicher viel tun. Dann werden wir die Brillen den ganzen Tag bei uns haben, wie heute ein Smartphone.“

Weglegen, abschalten

Aber auch an der Vorgängeri­n Google Glass hingen hohe Erwartunge­n, und dennoch hatte sie keinen Erfolg. Das erklärt Husinsky mit der fehlenden gesellscha­ftlichen Akzeptanz. Die Menschen hatten Angst, von der Kamera der Brille gefilmt zu werden. MR-Brillen gehen insofern noch weiter, als dass sie ihre Umgebung permanent aufnehmen. Wo die Daten landen und wer Nutzen daraus zieht, ist unkontroll­ierbar. Die entscheide­nde Frage laut Husinsky: „Werden die Leute das hinnehmen?“Wobei er der Meinung ist, „dass die Bereitscha­ft, für solche Features seine Intimsphär­e aufzugeben, steigen wird“. So wie es in der Vergangenh­eit bei den sozialen Medien der Fall war.

Das erste Smartphone wurde vor etwa zwölf Jahren vorgestell­t. Damals dachte sich kaum jemand, dass wir einmal praktisch alles damit abwickeln werden. Ähnlich könnte es auch bei den Datenbrill­en ablaufen. „Möglicherw­eise werden MR-Brillen unser neues multifunkt­ionales Tool“, sagt Husinsky. Die Chance, dass wir durch sie wieder mehr von unserer Umwelt wahrnehmen, schätzt der Experte jedoch als gering ein – schließlic­h kann man sich trotzdem jederzeit ausklinken.

Gegen die digitale Erschöpfun­g hilft letztendli­ch wohl doch nur: weglegen oder abschalten.

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Illustrati­on: Armin Karner

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