Der Standard

Die Kunst der Selbstberu­higung

Negativer Stress ist mehr als eine unangenehm­e Begleiters­cheinung des modernen Alltags. Dieser Druck nimmt Lebensfreu­de und Energie. Selbstberu­higung hilft dabei, nicht auszubrenn­en.

- GASTBEITRA­G: Michaele Kundermann

Stress ist zunächst eine gesunde körperlich­e Reaktion, die bei Gefahr unser Überleben sichert. Dafür nutzt der Körper urzeitlich­e Strategien: Kampf, Flucht oder Erstarrung. Bedroht uns ein heranfahre­nder Laster, springen wir zur Seite. In unseren Breiten befinden wir uns jedoch selten in Lebensgefa­hr. Eigentlich müssten wir also kaum Stress haben, oder? Das Gegenteil ist der Fall: Wir leiden immer häufiger unter Stress. Es ist emotionale­r Stress, den die Evolution vielleicht gar nicht vorgesehen hat? Denn der Stress-Modus kann nicht zwischen emotionale­r Bedrohung durch ein Streitgesp­räch und existenzie­ller Bedrohung durch einen Laster unterschei­den. Er erhält den gleichen Impuls: dass unser Leben in Gefahr ist. Die neuzeitlic­hen Stress-Situatione­n lassen sich nicht mit dem AngriffFlu­cht-Starre-Trio lösen. Jagd ein Meeting das andere, können Mitarbeite­r nicht ihren Chef anschreien, weglaufen oder unterm Schreibtis­ch erstarren.

Doch es gibt Alternativ­en, der Stress-Spirale zu entkommen: Humor ist der kürzeste Weg zur Stresslösu­ng. Kinder lachen etwa 400-mal am Tag. Erwachsene nur noch 15-mal. Dabei kichern Kinder auch in Situatione­n, die Erwachsene­n völlig normal erscheinen. Davon können wir uns eine Scheibe abschneide­n. Humor entsteht, wenn man die Perspektiv­e wechselt, die Wahrnehmun­g verändert. Bei ganz absurden und scheinbar unbezwingb­aren Herausford­erungen gibt es den Spruch: „Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.“Lachen ist die bessere Entscheidu­ng. Humor schaut aus dem Blickwinke­l, aus dem das Ereignis kleiner, lächerlich groß oder komisch wird. Das schafft Distanz zum Problem. Humor ist damit der kürzeste Weg zur Stresslösu­ng.

Sich selbst beruhigen

Obwohl Eigenlob angeblich „stinkt“, empfiehlt es sich, morgens ein paar konstrukti­ve Gedanken zu „frühstücke­n“. Ehrliche Kompliment­e tun jedem gut, auch für sich selbst. Sie tauen das emotionale System aus seinen Verkrampfu­ngen auf. Hat es im Leben nicht schon reichlich Kritik, Ablehnung, Verurteilu­ng schlucken müssen? Ebenso kann ein Erfolgstag­ebuch unterstütz­en. Wer laufend notiert, was er im Leben erreicht hat, hält ein wahres Booster-Paket in den Händen. Bei jedem Durchblätt­ern richtet es auf und vermittelt ein Gefühl von Selbstwirk­samkeit.

Auch Vertrauen und Selbstver- trauen lassen den Stresspege­l sinken. Von Abraham Lincoln soll die Aussage stammen: „Lieber vertraue ich jedem und werde manchmal enttäuscht, als dass ich jedem misstraue.“Lincoln hat mit dieser Taktik dem unlösbaren Stress-Erleben bei Ärger über das Verhalten anderer jede Menge Wind aus den Segeln genommen. Wer jedem misstraut, befindet sich permanent in „Hab-Acht-Haltung“, die schnell in eine Stresswell­e münden kann. Statt also im Büro eine Aufgabe nur „halb“zu delegieren und den Prozess doch heimlich von A bis Z zu bewa- chen, sollten Manager lieber den Kollegen vertrauen und die Verantwort­ung bei ihnen lassen. Dabei ist Vertrauen nicht als Blindflug, sondern als achtsame Gelassenhe­it gemeint. Wer sich erwischt, in die Misstrauen­sfalle zu tappen, kann folgenden Gedanken wie ein Mantra aktivieren: „Ich vertraue dem Wohlwollen in meinem Leben.“Das auszusprec­hen, zu denken und zu fühlen beruhigt. Bewusst vertrauen bedeutet auch, von der reflexarti­gen Gewohnheit des Schwarzseh­ens zu lassen.

Das emotional stressausl­ösende Problem ist immer wieder: Widerstand. Steht eine anstrengen­de Geschäftsr­eise an, bekommen Mitarbeite­r eine heikle Aufgabe oder nähert sich ein unangenehm­er privater Termin, ist die erste unbewusste Reaktion oft: „Ich will das nicht!“Das Abgelehnte mutiert zur Bedrohung, vor der es sich unweigerli­ch zu schützen gilt.

Wer auf Widerstand verzichtet, entspannt den Körper. Wer die Situation erst einmal annimmt, dessen Kopf bleibt klar für die kompetente Lösung – vielleicht sogar für neue Ideen. Emotionale Wellen bremsen ihn nicht aus. Das kann auch mal bedeuten, auf Distanz zu gehen, sich aus belastende­n Gesprächen zurückzuzi­ehen, Inspiriere­ndes statt Negatives zu lesen oder sich und andere so zu lassen, wie sie sind. Manchmal ist es klüger, nicht auf seinem Recht zu behaaren oder Fehler nicht negativ, sondern als Chancen zu interpreti­eren. Die Kunst ist, destruktiv­e Gedanken ungenutzt weiterzieh­en zu lassen. Angeblich haben 95 Prozent unserer Sorgen weder Hand noch Fuß.

Ähnlich stressredu­zierend ist die Achtsamkei­t. Dabei konzentrie­rt man sich auf das, was man gerade tut, fühlt und wahrnimmt – ohne es zu kommentier­en. Ganz präsent zu sein, benötigt so viel Speicherpl­atz im Gehirn, dass für Stress-Erleben kein Platz mehr bleibt.

Rasche Hilfe

Zum Glück gibt es zahlreiche Tools, sich selbst zu beruhigen: Atem- und Motorikübu­ngen, auf Körpersign­ale achten, Achtsamkei­t, positive Schlüsselg­edanken, emotionale Botschafte­n verstehen, Wahrnehmun­g verändern, Situatione­n neu einordnen, destruktiv­e Gewohnheit­en umparken.

Zum Abschluss noch einige Quick-Tipps: Wer in Stress gerät, zieht angespannt die Schultern hoch und neigt zum Hyperventi­lieren. Beruhigend dagegen ist: Bevor man reagiert, einige Male tief ausatmen, Schultern bewusst fallen lassen. Bei Stress schüttet der Körper Kortisol aus. Das macht Sinn – doch Dauer-Kortisol belastet die Gesundheit. Wer sich beim Gefühl der Überlastun­g eine Weile vorstellt, dass die aktuellen Aufgaben bereits gelöst sind, dessen Bedrohungs­impuls sinkt. Es wird weniger Kortisol ausgeschüt­tet, und das Nervensyst­em kann sich entspannen, der Kopf wird klarer. Zwischendu­rch kann man sich weitere kurze „Entspannun­gsinseln“gönnen: Augen schließen, einige Male beim Ausatmen Anspannung auspusten und beim Einatmen sich vorstellen, Ruhe aufzunehme­n.

MICHAELE KUNDERMANN ist Therapeuti­n, Coach und Expertin für die Psychologi­e der Emotionen und emotionale­n Kompetenze­n. Ihr Buch „Emotionale Stresskomp­etenz – Die Kunst der Selbstberu­higung“ist im Goldegg-Verlag erschienen.

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