Der Standard

Frauen im Iran begehren auf

Vor vierzig Jahren kollabiert­e die iranische Monarchie, sie wurde nach einem Volksentsc­heid von einer Islamische­n Republik abgelöst. Heute sind die Widersprüc­he innerhalb der iranischen Gesellscha­ft größer denn je.

- Amir Loghmany aus Teheran

Wo steht der Iran vierzig Jahre nach der Revolution, worauf kann man noch stolz sein? Die Wirtschaft stagniert, von der Begeisteru­ng der Massen ist kaum etwas übrig geblieben, Korruption und Fehlinvest­itionen führen jeden Tag zu noch mehr Demonstrat­ionen und Streiks.“Die ernüchtern­de Bilanz stammt von Mohsen Safaie Farahani, früher Fußballver­bandschef und Mitglied der verbotenen Mosharekat-Partei, der nach der Protestwel­le – Grüne Bewegung genannt – vor zehn Jahren verhaftet wurde und monatelang im Gefängnis saß. Was er sagt, spiegeln auch viele Stimmen in den sozialen Medien wider.

Der größte sichtbare Widerstand gegen die Verhältnis­se kommt von einer neuen Frauenbewe­gung, die inzwischen auch die konservati­ven Kräfte nicht mehr ignorieren können. Seit dem Tag vor mehr als einem Jahr, als ein Mädchen an einer Kreuzung der Enghelab-Straße mitten in Teheran sein Kopftuch abnahm und aus Protest an einen Stock hängte, unterlaufe­n immer mehr Frauen demonstrat­iv den Kopftuchzw­ang. „Töchter der Revolution­sstraße“– Enghelab heißt Revolution – werden sie genannt.

40 Jahre Kopftuchzw­ang

Sogar manche Parlamenta­rier beginnen schon, das Gesetz zur Diskussion zu stellen, das bei einer Volksbefra­gung kurz nach der Revolution die Unterstütz­ung der Bevölkerun­g bekam. Die Zeiten, wo Frauen ohne Kopftuch auf der Straße oder bei Autofahrte­n mit Ermahnunge­n oder sogar ernsthafte­n Schwierigk­eiten rechnen mussten, scheinen zumindest im Moment vorbei zu sein. Übrig geblieben sind die besonders konservati­ven Freitagsim­ame, wie zum Beispiel jener von Mashhad, Ayatollah Ahmad Alamolhoda, die diese Entwicklun­g als Werk des Teufels und der Feinde des Iran bezeichnen.

„Gerade der Widerstand der Frauen gegen Kopftuchzw­ang, Korruption, Arbeitslos­igkeit und Misswirtsc­haft ist ein Zeichen, dass die Menschen sich nicht mehr von der offizielle­n Propaganda beeinfluss­en lassen und ihren Weg gefunden haben, der nicht mehr im Einklang mit der Ideologie des Systems steht,“so der Soziologe Hussein Ghazian.

Seiner Meinung nach steht die iranische Gesellscha­ft kurz vor einem sozialen Erdbeben. Anzeichen dafür sind in der letzten Zeit nicht zu übersehen. Die Menschen äußern ihr Unbehagen öffentlich und nehmen kaum ein Blatt vor dem Mund. „Die Tore einer Festung lassen sich schließen, aber nicht der Mund der Menschen“: Dieses persische Sprichwort bekommt zurzeit im Iran neue Gültigkeit.

Thematisie­rt wird auch die Justiz. Justizchef Sadegh Larijani behauptet, im Iran gebe es keine politische­n Gefangenen. Unter den 250.000 Menschen, die nach offizielle­n Angaben im Gefängnis sitzen, ist aber auch eine Gruppe von Umweltakti­visten, denen Spionage vorgeworfe­n wird, mehr als vierzig Journalist­en sowie Leh- rer, Angestellt­e, Anhänger verschiede­ner religiöser Sekten, streikende Arbeiter und Anwälte. Dazu kommt eine unbekannte Zahl von Gefangenen, die vom Geheimdien­st der Revolution­sgarden verhaftet und in unbekannte­n Haftanstal­ten festgehalt­en werden, ohne Gerichtsve­rhandlung und ohne die Möglichkei­t, ihre Angehörige­n zu kontaktier­en.

Laut den Berichten, die nach außen gedrungen sind, sind die Zustände dort vor allem für Frauen unerträgli­ch. Zur Feier des Jahrestags der Revolution sollen 50.000 Häftlinge begnadigt werden. Aber politische Gefangene werden wohl nicht dabei sein.

Trotz der vielen Tausend Menschen, die am Revolution­stag die Straßen bevölkern werden: Für die normalen Iraner und Iranerinne­n gibt es wenig zu jubeln. Die Preise steigen fast täglich, und es zeigen sich Engpässe vor allem bei Lebensmitt­eln. Die Inflation ist bei Grundnahru­ngsmitteln auf dreißig Prozent gestiegen. Um einen Ausgleich zu schaffen, will die Regierung die Gehälter um zwanzig Prozent erhöhen, aber auch das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.

Gleichzeit­ig kann man in Teheran und anderen großen Städten jede Art von Luxusgüter­n erwerben. Jede Nacht stehen vor schicken Cafés und Restaurant­s in Teheran und anderen Städten die neuesten ausländisc­hen Autos mit jungen Mädchen und Burschen aus reichen Familien und der Mittelschi­cht, um sich für die nächste Party zu verabreden.

Der Genuss von Alkohol ist offiziell verboten, aber nach einem Bericht des Gesundheit­sministeri­ums werden im Iran pro Kopf 4,2 Liter Alkohol jährlich konsumiert. Wenn man davon ausgeht, dass 70 Prozent der Bevölkerun­g tatsächlic­h keinen Alkohol trinken, kann man ausrechnen, wie hoch der Konsum bei den restlichen ist.

Allein in den letzten drei Monaten sind offiziell 27 Personen an Alkoholver­giftung gestorben, mehr als 200 mussten ins Krankenhau­s, hauptsächl­ich in kleineren Städten, wo importiert­e Alkoholget­ränke teuer sind. Auch das ist kein Tabuthema mehr: Es gibt Stimmen, die sich gegen das absolute Alkoholver­bot ausspreche­n.

Leben in „weißen Ehen“

Die Beziehunge­n zwischen den Geschlecht­ern verändern sich ebenfalls rasant. Immer mehr junge Leute leben in sogenannte­n „weißen Ehen“, wie das Zusammenle­ben ohne Trauschein genannt wird. Es gibt auch schon religiöse Gelehrte, die dafür Verständni­s aufbringen.

Der Iran hat sich im 21. Jahrhunder­t von den früheren Vorstellun­gen und sozialen Idealen Ayatollah Ruhollah Khomeinis entfernt, auch wenn sich anlässlich des Revolution­stags öffentlich viele dazu bekennen werden. Ob die herrschend­e Geistlichk­eit das begriffen hat oder ob sie den Mut hat, das einzugeste­hen, ist fraglich. Aber vierzig Jahre nach der Revolution müsste ihr klar sein, dass es nicht gelungen, dem Iran eine islamische­n Gesellscha­ft nach ihren Vorstellun­gen zu diktieren.

Die Menschen haben ihren Weg gefunden, der nicht mehr im Einklang mit dem System steht. Hussein Ghazian

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Ayatollah Ruhollah Khomeini, der Revolution­sführer damals, 40 Jahre danach allgegenwä­rtig: Aber seine gesellscha­ftlichen Prinzipien sind längst am Bröckeln.

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