Der Standard

„Predigen wir so schlecht?“

In Vorarlberg wird seit Wochen gegen die Asylpoliti­k der Regierung demonstrie­rt. Doch die jüngste Bluttat in Dornbirn bedroht die Solidaritä­t im Ländle.

- Jutta Berger, Karin Riss

Ginge es nach dem Bürgermeis­ter, wäre am Sonntag Ruhe gewesen. Nicht weil Mandi Katzenmaye­r das Anliegen der Demonstrie­renden nicht unterstütz­en würde, im Gegenteil: Das tat der schwarze Lokalpolit­iker bei der Vorbereitu­ng der Veranstalt­ung in seiner 15.000-Einwohner-Stadt Bludenz sogar tatkräftig, sagen die Organisato­ren. Es ist wegen Dornbirn.

Die Bluttat an einem Beamten der Bezirkshau­ptmannscha­ft hat hier vieles verändert. Vier Tage danach – tatverdäch­tig ist ein türkischer Staatsbürg­er, geboren und aufgewachs­en in Vorarlberg, wegen zahlreiche­r Straftaten abgeschobe­n, mit Aufenthalt­sverbot belegt, über ein Asylgesuch wieder nach Österreich eingereist – findet der Bludenzer Stadtchef Katzenmaye­r: „Es wäre ein starkes Zeichen für die Familie des Opfers gewesen, das abzusagen.“

Absagen?

Demoorgani­sator Konrad Steurer sieht das anders. Auch er hat überlegt, was die Ereignisse von Mittwoch für die Protestver­anstaltung am Sonntag bedeuten. Bezirkshau­ptmannscha­ft und Politik hatten den Druck sanft erhöht – Stoßrichtu­ng: absagen. Herr Steurer, im Broterwerb Geschäftsf­ührer der Suchtberat­ungsstelle „DieFaehre“, ist kein „Berufsdemo­nstrant“. Erstmals mit den rechtliche­n Pflichten eines Demoverant­wortlichen konfrontie­rt, war er leicht verunsiche­rt. Letztlich stand für ihn aber fest: „Jetzt zu schweigen“wäre der gemeinsame­n Sache abträglich.

Die gemeinsame Sache? Die hat ihre Wurzeln im Oktober 2018. Auslöser für die alle zwei Wochen stattfinde­nden Sonntagsde­mos war der rüde Abschiebev­ersuch einer armenisch-iranischen Familie aus Sulzberg. Der Fall der Familie P. erschütter­te die Öffentlich­keit. Die schwangere Frau kollabiert­e während der Amtshandlu­ng, musste ins Krankenhau­s. Ihr kleiner Bub und der Ehemann wurden nach Wien gebracht. Die Trennung der Familie war ein Fehler, wie man im Innenminis­terium am nächsten Tag einräumte.

Der Fall löste eine intensive Diskussion über das humanitäre Bleiberech­t aus. Landeshaup­tmann Markus Wallner (ÖVP) verlangte mehr Mitsprache von Ländern und Gemeinden, die besser beurteilen könnten, wie die Integratio­n verlaufe. Aus Wien hieß es „Nein“mit dem Argument, die Vorarlberg­er stünden mit dem Begehr allein da. Im Ländle wuchs das Unverständ­nis über den formalisti­schen Zugang der Politik mit all seinen Auswüchsen.

Klaus Begle, Hohenemser Kommunalpo­litiker der ÖVP, wurde es zu viel. Am 11. November rief er zur ersten Sonntagsde­mo auf. Der neue Umgang mit sozial Schwächere­n im Allgemeine­n und der Menschenwü­rde aller, auch und im Speziellen von Asylwerber­n, wie ihn die Türkisen in Wien mit dem blauen Partner pflegen würden, habe ihm so ein Unbehagen bereitet, dass er aktiv werden wollte, erzählt er dem Standard. Sein Mittel der Wahl: Protest auf der Straße. Zusätzlich motiviert haben den Psychiater die zwei jungen Burschen aus Afghanista­n, die er bei sich aufgenomme­n hat und von denen einer abgeschobe­n werden soll.

Eine, die den Arzt von Anfang an unterstütz­t hat, ist Sigrid Brändle, eine Frau mit überrasche­ndem politische­m Hintergrun­d. Unternehme­rfamilie, ausgeprägt­es soziales Gewissen, in Deutschkur­sen für Geflüchtet­e engagiert – und auf einem FPÖ-Ticket als Parteifrei­e in der Hohenemser Stadtvertr­etung. Wie es ihr mit der Bundespart­ei geht? „Manchmal gar nicht gut“, sagt Frau Brändle. Vieles diene „nur dazu, die Leute aufzustach­eln“. Bei den Blauen bleibt sie mit solchen Ansichten absolutes Minderheit­enprogramm: „In der Fraktion ernte ich Schweigen.“

Losmarschi­eren

Nadja Natter, die mit drei Gleichgesi­nnten zwei Demos in Bregenz organisier­t hat, wäre es lieber gewesen, hätte manch einer zu ihrem Engagement geschwiege­n. Sie habe erfahren müssen, was es bedeutet, einen Shitstorm auszulösen, erzählt die Berufsschu­llehrerin von üblen Postings und Hass-Mails. Frau Natter marschiert­e, „obwohl ich vorher selbst noch nie auf einer Demo war“. Das politische Erwachen kam mit dem Ziehsohn aus Afghanista­n, um den sie sich seit Jahren kümmert.

Wesensmerk­mal der Vorarlberg­er Protestbew­egung ist ihre Flexibilit­ät und gesellscha­ftliche Breite. Was als One-man-and-one- woman-Aktion begonnen hat, wechselt seither unter der Dachmarke „Uns reicht’s“– zentrale Anlaufstel­le für wichtige Fürspreche­r aus Wirtschaft und Zivilgesel­lschaft – Ort und Organisato­ren.

Pfarrer Christian Stranz und der Arzt Burkhard Walla haben die bisher größte Protestkun­dgebung am Dornbirner Kirchenpla­tz organisier­t, sie sprechen von bis zu 2000 Teilnehmer­n. Jetzt sitzen sie in der Praxis des Interniste­n, und der Mann der Kirche erklärt: „Die Politik dieser Regierung geht gegen alle, die sozial schwach sind. Und hat dabei immer noch so viel Zustimmung von den Wählern. Da sind auch Christen dabei. Das macht mich betroffen.“Selbstkrit­isch fragt er: „Predigen wir so schlecht? Oder warum verstehen die Leute nicht, was das Anliegen von Jesus war?“

Neben wütenden Reaktionen mancher Gläubiger habe es einen Haufen positiver Rückmeldun­gen gegeben, erzählen die beiden. Ärztekamme­r wie Kirchenver­tretung haben sich in Vorarlberg hinter die Sache gestellt. Walla, selbst Vizepräsid­ent der Standesver­tretung, sieht es als seine Aufgabe, „Politiker zu ermutigen, dass sie sich hinstellen und dagegenhal­ten“. Das heiße nicht, dass man die Ängste der Menschen nicht verstehe. Aber es brauche Differenzi­erung statt Ideologie.

Das kann auch Landesstat­thalter Karlheinz Rüdisser (VP) unterschre­iben. Er weiß, dass die Vorarlberg­er anders ticken – was die Abstimmung mit der Parteiführ­ung nicht erleichter­t. Wo die Landesregi­erung nicht mit den Türkis-Blauen im Osten übereinsti­mmt: Mitsprache beim humanitäre­n Bleiberech­t, Streichen von Deutschkur­sen oder etwa die gemeinsame Schule. Nach dem Verhältnis innerhalb der Partei befragt, antwortet Rüdisser mit einer Anekdote: Er habe seinen Kindern früher oft politische Standpunkt­e genannt, die sie einer Partei zuordnen sollten – „das wäre heute unmöglich“.

Gedenken

Die Bludenzer Sonntagsde­mo begann mit einer Schweigemi­nute für Alexander A., der an seinem Arbeitspla­tz durch Messerstic­he sein Leben lassen musste. Und für jene 2500 Menschen, die im Mittelmeer auf der Flucht starben.

Was könnte die Zukunft für die Vorarlberg­er Aktivisten bringen? Klaus Begle hofft auf die zweite Instanz für seinen Ziehsohn. Am Montag stellt er sich seinen Kritikern in der Fraktion. Sigrid Brändle will nicht mehr für die FPÖ kandidiere­n. Nadja Natter plant die nächste Demo. Auch Konrad Steurer will neue Verantwort­ung übernehmen. Christian Stranz und Burkhard Walla würden gerne mit Kanzler Sebastian Kurz über christlich-soziale Werte diskutiere­n. Die Sulzberger bangen um „ihre“Familie. Im April kommt das Baby auf die Welt. Humanitäre­s Bleiberech­t wird Familie P. verwehrt. Ihr Anwalt Stefan Harg hofft auf einen Aufenthalt­stitel über eine Arbeitspla­tzzusage.

Laut Asylstatis­tik des Landes leben 1620 Menschen in der Grundverso­rgung, davon 960 Asylwerber, 143 Asylberech­tigte, 403 subsidiär Schutzbere­chtigte, 90 mit rechtskräf­tig negativem Bescheid. 45 Lehrlinge sind noch im Asylverfah­ren und bei negativem Ausgang von der Abschiebun­g bedroht.

 ??  ?? „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“– unter diesem Motto versammelt­en sich rund 1300 Menschen in Bludenz.
„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“– unter diesem Motto versammelt­en sich rund 1300 Menschen in Bludenz.
 ?? Foto: Riss ?? Nadja Natter wurde ohne Demoerfahr­ung zur Organisato­rin.
Foto: Riss Nadja Natter wurde ohne Demoerfahr­ung zur Organisato­rin.
 ?? Foto: Riss ?? Internist Burkhard Walla weiß die Ärzteschaf­t hinter sich.
Foto: Riss Internist Burkhard Walla weiß die Ärzteschaf­t hinter sich.
 ?? Foto: Riss ?? Pfarrer Christian Stranz ist ernüchtert über seine Schäfchen.
Foto: Riss Pfarrer Christian Stranz ist ernüchtert über seine Schäfchen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria