Der Standard

Angst vor der „brüderlich­en Einverleib­ung“

Moskau und Minsk streiten über Ölpreise – Einen russischen Ölrabatt soll es nur noch gegen eine vertiefte Integratio­n geben

- Simone Brunner aus Minsk

Es ist eine kühle Septembern­acht, als der weißrussis­che Opposition­elle Pawel Sewjarynez an einer Fernstraße steht, sein Handy zückt und in den Osten starrt. Dorthin, wo im Dunkel der Nacht die russische Grenze liegt. „Wir wollten zumindest dokumentie­ren, wenn die russischen Panzer kommen“, erinnert er sich heute. „Und unseren zivilen Ungehorsam zeigen.“

Das war im Herbst 2017. Damals, als vor der russisch-weißrussis­chen Militärübu­ng „Sapad2017“die Informatio­n durchsicke­rte, das russische Militär hätte eine Panzerdivi­sion nach Weißrussla­nd geschickt – ohne jedoch Minsk darüber vorab informiert zu haben. Eine Finte, wie damals Sewjarynez vermutete: „Eine Annexion, als Militärübu­ng getarnt.“

Die Panzer kamen damals nicht, aber die Annexion ist dieser Tage wieder in aller Munde – wenngleich unter anderen Vorzeichen. Russland hat Weißrussla­nd über Jahrzehnte billiges Öl geliefert, das in Fabriken weitervera­rbeitet und zu Weltmarktp­reisen exportiert wurde – ein wichtiger Devisenbri­nger für Minsk. Eine neue russische Fördersteu­er macht das Öl jetzt aber teurer, auch für Weißrussla­nd. Als Minsk protestier­te, konterte Moskau, dass Rabatte künftig nur gegen eine tiefere Integratio­n gewährt werden, wie es der Vertrag für eine Russisch-Weißrussis­che Union von 1999 vorsieht. Eine „brüderlich­e Einverleib­ung“, mit wirtschaft­lichen Mitteln?

Langzeitpl­äne Putins

In internatio­nalen Medien gingen die Wogen hoch. „Will Putin Weißrussla­nd einglieder­n?“, fragte der Stern, Weißrussla­nd stünde „an der Schwelle, seine Unabhängig­keit zu verlieren“, schrieb die Historiker­in Anne Applebaum. „Putins Pensionspl­äne hängen von Weißrussla­nd ab“, titelte ein Bloomberg-Kolumnist. Immerhin könnte er als Präsident einer Russisch-Weißrussis­chen Union auch über 2024 hinaus – das Ende seiner verfassung­smäßigen Amtszeit – an der Macht bleiben.

Bei Artjom Schrajbman sorgten diese Schlagzeil­en für Kopfschütt­eln. Der Politologe sitzt in der Redaktion des Online-Mediums tut.by im neunten Stock eines Bürogebäud­es im „Moskauer Bezirk“in Minsk. Freilich sei auch in Weißrussla­nd seit der Krim-Annexion die Nervosität groß, räumt er ein. „Aber Weißrussla­nd ist nicht die Krim.“Obwohl großteils russischsp­rachig, gäbe es weder im Volk noch an der Staatsspit­ze prorussisc­he Anhänger einer Annexion – und ohne die ließe sich ein Szenario wie auf der Krim oder im Donbass schwer realisiere­n.

Zudem ginge es diesmal nicht um Großmacht, sondern um Geld: „Moskau muss sparen“, sagt Schrajbman. Stichwort: Pensionsre­form, die zuletzt tausende Russen auf die Straße getrieben hatte. „Deswegen stellt Putin Bedingunge­n an Lukaschenk­o, die dieser unmöglich erfüllen kann.“Wie eben eine Integratio­n im Sinne des Unionsvert­rages. Die Verluste aus dem Ölgeschäft kommen Minsk teuer zu stehen – 260 Millionen Euro allein in diesem Jahr. Aber Präsident Lukaschenk­o „wird dafür wohl kaum seine Souveränit­ät aufgeben“. Und letztlich könnte Putin die Amtszeit mit einer Verfassung­sänderung einfacher verlängern, als ein Zehn-MillionenE­inwohner-Land zu annektiere­n.

Fakt ist, dass Moskau nicht gerade mit vertrauens­bildenden Maßnahmen aufgefalle­n ist. Vor wenigen Monaten ist Michail Babitsch zum russischen Botschafte­r in Minsk berufen worden. Er gilt als kremlnaher Krisenmana­ger für heikle Missionen, seine bisherigen Bestimmung­sorte: Tschetsche­nien und die Ukraine, wobei seine Ernennung von Kiew blockiert wurde. Es heißt, Lukaschenk­o sei über diese Personalie alles andere als erfreut gewesen.

Oder das russische TV, in Weißrussla­nd viel populärer als das Staatsfern­sehen über Rekordernt­en und Fünfjahres­pläne, in dem zuletzt nicht nur gegen Kiew, sondern auch Minsk gewettert wurde.

Wie wird es also weitergehe­n zwischen Minsk und Moskau? À la longue werden die Zuckerln aus Russland wohl ausbleiben – und die Beziehunge­n „weiter abkühlen“, glaubt Schrajbman. Für Sewjarynez, der an der russischen Grenze patrouilli­erte, sind die Annexionsp­läne dennoch nicht ganz vom Tisch. „Ich bin mir sicher, sie liegen noch in einer Schublade.“

Putin und Lukaschenk­o werden jedenfalls bald über die Krise sprechen – sie treffen einander am Mittwoch in Sotschi.

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Foto: AP/Nemenov Verbündet, nicht begeistert: Lukaschenk­o und Putin.

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