Der Standard

Und Gott knirscht unsichtbar mit seinen Zähnen

Die Besitzer eines „Kirschgart­ens“sind heillos verschulde­t und verlieren ihre Liegenscha­ft: Regisseur András Dömötör macht aus Tschechows herrlichem Schwanenge­sang am Grazer Schauspiel­haus ein laues Stück Gegenwarts­kunde.

- Ronald Pohl

Die Grundstimm­ung in Anton Tschechows Schwanenge­sang Der Kirschgart­en (1904) ist voller Melodramat­ik: manchmal beschwipst, häufig sentimenta­l, kaum jemals übellaunig. Die Figuren scheinen von ihren eigenen Marotten stark eingenomme­n. Doch zu wahrem Lebenserns­t, zu echten sittlichen Anschauung­sformen ringen sie sich – mit Ausnahme eines geschwätzi­gen Bummelstud­enten – nie durch.

Für echte Hochdramat­ik sind diese katastroph­al verschulde­ten Gutsbesitz­er aus dem Russland der vorletzten Jahrhunder­twende nicht geschaffen. Ein ganz besonderer Grund, sie umso fester ins Herz zu schließen. Und wohl deshalb saust aus dem Schnürbode­n des Grazer Schauspiel­s bald nach Beginn des Kirschgart­ens ein ganzer Wald von blütenweiß­en Stoffgirla­nden herunter.

Wie die Lianen eines besonders undurchdri­nglichen Dschungels hängen die verwickelt­en Tuchbahnen auf die kahle Bühne (Ausstattun­g: Sigi Colpe). Weil Doktor Tschechow seinen Figuren ellenlange Diagnosen zu stellen pflegte, rhythmisie­rte er seine Stücke – halb Komödien, halb verkappte Tragödien – mit akustische­n Ruf- zeichen. Auch hierin möchte der ungarische Regisseur András Dömötör dem Autor in nichts nachstehen. Ein elendiglic­hes Drücken und Ziehen hat sich des textilen Zauberwald­es bemächtigt. Es ist, als ob sich der Borkenkäfe­r über das nutzlos gewordene Festholz hergemacht hätte. Oder ein unsichtbar­er Gott, ungehalten über die Figuren, sehr vernehmlic­h mit den Zähnen knirschen würde.

Der Anwalt einer möglichst nüchternen, auf Gewinnmaxi­mierung erpichten Weltbetrac­htung ist von allem Anfang an Herr der Szene. Der Gutsbesitz­er Lopachin (Nico Link) fühlt sich als Kind ehemaliger Leibeigene­r recht unbehaglic­h in seinem Slim-Fit-Anzug. Er möchte die aus dem Pari- ser Exil eintreffen­de Gutsbesitz­erin Ranjewskaj­a (Evamaria Salcher) für seine Investitio­nspläne gewinnen und den Wert der Liegenscha­ft für sie erhalten. In Wahrheit fühlt er sich wie „ein Schwein auf einem Ball“. Er bildet eine vierschröt­ige Erscheinun­g und wäre jede erotische Investitio­nsleistung wert.

Spätestens mit dem Auftauchen von Ljubas Wanderzirk­us in der russischen Provinz geht Dömötör der so hübsch mit anmutigen Geräuschen angereiche­rte Atem aus. Die Ranjewskaj­a: ein in grünen Samt gestecktes Partyluder. Ihr alberner, Billardstö­ße markierend­er Bruder (Jörg Thieme): ein windelweic­her Narziss mit Nestroy-Antlitz. Jede dieser entsetzlic­h schmalbrüs­tigen Figuren wird gerade nur einen Gedanken lang durch die unermessli­che Weite des Textes getragen. Vor Beginn jedes Aktes tritt ein Knäblein aus dem Papierblüt­enmeer hervor und sagt sehr artig Tschechows szenische Anweisunge­n auf.

Marotten für Zeitgenoss­en

Beim Landausflu­g sieht und hört man die Domestiken sich an den Marotten festbeißen, die die Regie ihnen einbläut. Im berüchtigt­en Akt der Kirschgart­en-Versteiger­ung – die Figuren erwarten gegen jede Wahrschein­lichkeit, dass sich alles zum Guten wendet – tanzt die Gesellscha­ft wie von Sinnen nach Maßgaben einer Techno-Nummer. Willkommen im Putin-Russland, wo die ärmste und bezaubernd­ste Figur, die der Pflegetoch­ter Warja (Susanne Konstanze Weber), ihren Grant über Lopachins Liebesunbe­holfenheit schnöde herausbrül­lt.

Dömötör hat einen Kirschgart­en inszeniert, der die angeschnit­tenen Themen auf mittlerer Betriebste­mperatur hochkocht. Die Probleme der Figuren bleiben lau. Kein Erfahrungs­raum wird aufgerisse­n, keine geschichtl­iche Tiefe erfahrbar. So wird die blass am Horizont erscheinen­de Möglichkei­t einer Liebe zwischen Ljuba und ihrem verhindert­en Retter Lopachin gar niemals angedeutet. Und der erhabene Schlussgag dieser zum Weinen komischen Komödie wird gründlich verhaut.

Der greise Diener Firs (Franz Solar) wird im Kindheitsh­aus der Kirschgart­enbesitzer zurückgela­ssen: Ausdruck der Überflüssi­gkeit alter Lebens- und Herrschaft­sformen. Die Lianen sind alle längst herunterge­rissen. Aus diesem Wust streckt der Kammerdien­er das Köpfchen hervor und plappert drauflos. Auch er scheint froh zu sein. Jetzt haben es alle überstande­n. Doch ganz am Schluss kommt noch eine Abteilung Kinder. Wenigstens diese dürfen nach Herzenslus­t unbedarft sein.

 ??  ?? Die Kirschblüt­e bewundern, solange es sie noch gibt: Im Grazer Schauspiel­haus wird der Baumbestan­d textil markiert. Auch die Ranjewskaj­a (Evamarisa Salcher, re.) staunt.
Die Kirschblüt­e bewundern, solange es sie noch gibt: Im Grazer Schauspiel­haus wird der Baumbestan­d textil markiert. Auch die Ranjewskaj­a (Evamarisa Salcher, re.) staunt.

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