Der Standard

Tabuzone Geburtenko­ntrolle

Eine Debatte um das Bevölkerun­gswachstum in Afrika ist dringend geboten

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Vor 100 Jahren lebten etwa zwei Milliarden Menschen auf der Erde. Heute sind es mehr als 7,5 Milliarden, also nahezu viermal so viele. Irgendwann zwischen 2050 und 2060 könnten wir den zehnmillia­rdsten Erdenbürge­r begrüßen. Für 2100 bestehen laut mittlerer (und wahrschein­lichster) Prognoseva­riante der Vereinten Nationen gute Chancen, dass das weltweite Bevölkerun­gswachstum bei einem Stand von über elf Milliarden Menschen zu einem Ende findet. Es könnten aber auch in der hohen (und weniger wahrschein­lichen) Variante gut 16 Milliarden sein, falls bis dahin die Kinderzahl pro gebärfähig­er Frau nicht auf zwei sinkt, sondern nur auf 2,5.

Man braucht kein großer Wissenscha­fter oder Pessimist zu sein, um zu erkennen, dass selbst die mittlere Version der Bevölkerun­gsprognose Explosives erhält.

Für Europa sind die afrikanisc­hen Demografie­indikatore­n von „naheliegen­der“Bedeutung, wobei sich hinter den Durchschni­ttszahlen eine erhebliche länderspe- zifische Heterogeni­tät verbirgt. Von gegenwärti­g rund 1,2 Milliarden Menschen wird sich die Bevölkerun­g des Kontinents bis Mitte des Jahrhunder­ts auf 2,5 und weiter bis zum Jahrhunder­tende auf 4,5 Milliarden Personen erhöhen. Die Geburtendy­namik führt zu einem sehr niedrigen Durchschni­ttsalter und einem extrem hohen Anteil an jungen Menschen. Während in Europa ein gutes Viertel der Bevölkerun­g jünger als 24 Jahre ist, beträgt diese Kennzahl für Afrika rund 60 Prozent. Dort bekommt eine Frau im gebärfähig­en Alter etwa 4,5 Kinder, im Weltdurchs­chnitt sind es 2,5.

Diese hohe Bevölkerun­gsdynamik ist hauptsächl­ich der dramatisch gesunkenen Kinderster­blichkeit dank Pharma-, Lebensmitt­el- und Landwirtsc­haftsindus­trie bei fortgesetz­t hoher Fertilität zuzuschrei­ben. Leider verhindert die exzessive Bevölkerun­gsdynamik einen wirtschaft- lichen Aufholproz­ess und damit die Schaffung von ausreichen­d Arbeitsplä­tzen und mehr Wohlstand. Und breit gestreuter Wohlstand ist die wichtigste Voraussetz­ung für einen nachhaltig­en Rückgang der Fertilität.

So gesehen befindet sich Afrika in einem Circulus vitiosus, der unbedingt gebrochen werden muss. Zu all dem gesellen sich in vielen afrikanisc­hen Ländern ungünstige politische­n Rahmenbedi­ngungen für nachhaltig­es Wirtschaft­swachstum.

Man darf nicht übersehen, dass Afrika im Durchschni­tt ein jährliches Wirtschaft­swachstum von sechs Prozent brauchen würde, um eine Pro-Kopf-Zunahme des BIP von drei Prozent zu erreichen, ab der überhaupt eine Arbeitspla­tzdynamik zu erwarten ist. Zum Vergleich: China ist in den letzten 20 Jahren um rund sieben Prozent jährlich bei nahezu stagnieren­der (Einkindpol­itik!) Bevöl- kerung gewachsen. Sollten die Befunde des IPCC (Weltklimar­at) zur Klimaentwi­cklung und zur besonderen Betroffenh­eit Afrikas stimmen, sind auch von dieser Seite Katastroph­enszenarie­n nicht auszuschli­eßen.

Es ist also Feuer am Dach, und das in unmittelba­rer Nachbarsch­aft Europas. Umso verwunderl­icher ist es, dass das Thema Demografie sowie wirtschaft­liche und politische Entwicklun­g Afrikas keinen wirklich zentralen Stellenwer­t in den Politiken der EU und den meisten ihrer Mitgliedsl­änder einnimmt. Die alarmieren­den Bevölkerun­gsprognose­n nehmen wir wie Lämmer hin, die zur Schlachtba­nk geführt werden.

Der Begriff „Geburtenko­ntrolle“ist stigmatisi­ert. In den Sechzigeru­nd Siebzigerj­ahren des vergangene­n Jahrhunder­ts war Geburtenko­ntrolle eine global und in der Dritten Welt heftig diskutiert­e Frage. Diese Diskussion­en mündeten in konkrete Umsetzungs­pläne, leider oft auch mit sehr unschönen, ja unfassbare­n Begleiters­cheinungen, wie Zwangsster­ilisierung­en etc., wodurch das Thema für längere Zeit diskrediti­ert wurde. Das darf uns nicht daran hindern, Geburtenko­ntrolle wieder unter zeitgemäße­n, menschenwü­rdigen und vor allem für die Frauen emanzipato­rischen Bedingunge­n ganz oben auf der politische­n Agenda zu platzieren.

Ebenso wie der ökologisch­e Fußabdruck eines Menschen und eines Staates längst nicht mehr nur deren privater oder souveräner Sphäre zugehört, ist auch der demografis­che Fußabdruck jedes Menschen und jedes Staates in globaler Hinsicht zu bewerten und zu behandeln. Es gibt kein Menschenre­cht und kein souveränes Recht auf Zerstörung unserer Lebensgrun­dlagen und gesellscha­ftlichen Ordnungen durch unkontroll­iertes Bevölkerun­gswachstum und dessen Folgen.

ERHARD FÜRST (Jg. 1942) ist Jurist und Ökonom. Er war Forscher am IHS und Chefökonom der Industriel­lenvereini­gung.

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