Der Standard

Mit dem Bett „verwachsen­er“Pflegefall

Wegen Vernachläs­sigung eines Wehrlosen müssen sich eine Heimhelfer­in und ein Krankenpfl­eger vor Gericht verantwort­en. Sie beteuern, die Gattin des Opfers habe versproche­n, sich um ihren Mann zu kümmern.

- Michael Möseneder

ble Gerüche können tatsächlic­h eine derart körperhaft­e Vehemenz entwickeln, dass man den Eindruck bekommt, gegen eine Wand aus Gestank zu prallen. Eine Erfahrung, wie sie auch das Team eines Rettungswa­gens machte, als es am 23. November 2016 in die kleine Wohnung eines Wiener Pensionist­enpaares kam. Am ersten Tag des Prozesses gegen deren Heimhelfer­in Gabriele K. und den Krankenpfl­eger Wolfgang F. wurde bereits berichtet, dass die Einsatzkrä­fte protokolli­erten, danach die Kleidung gewechselt zu haben, auch beim zweiten Verhandlun­gstag hört Richter Stefan Erdei deutliche Beschreibu­ngen.

„Es war die komplette Mischung. Fäkalien und Urin“, erinnert sich ein Zeuge an den olfak- torischen Eindruck. „Die Kollegen haben mich von oben gewarnt, da habe ich mir gleich Teebaumöl unter die Nase gerieben“, rekapituli­ert der Fahrer.

Quelle der Geruchsmol­eküle war Herr M., der Wohnungsbe­sitzer, der auch einen schockiere­nden Anblick bot. Der Pflegefall hatte zehn Zentimeter lange Fingernäge­l, lag in den eigenen Exkremente­n im Bett und „war schon ziemlich verwachsen mit dem Ganzen“, schildert ein Helfer. Wegen teils offener Rückenwund­en wurde der Patient, so gut es ging, von der Bettwäsche gelöst und ins Spital gebracht. Mittlerwei­le lebt der schwerst Demente in einem Heim und kann nichts mehr zur Aufklärung beitragen.

Die Angeklagte­n bleiben auch diesmal bei ihrer Version: Die Heimhilfe sagt, sie sei primär für Frau M. zuständig gewesen, habe Einkäufe erledigt und den Haushalt in Ordnung gehalten. Herrn M. habe sie fast nie zu Gesicht bekommen – der Richter weist sie allerdings darauf hin, dass sie am ersten Prozesstag noch gesagt habe, dessen Tür sei immer offen gewesen und sie habe Getränke und frisches Obst neben seinem Bett wahrnehmen können.

Krankenpfl­eger F. wiederum beteuert, er sei zur Erhebung des Pflegebeda­rfs zweimal in der Substandar­dwohnung mit WC am Gang gewesen. Herr M. habe noch einen durchaus rüstigen Eindruck gemacht, die Gattin habe auch versichert, sich selbst um seine Körperpfle­ge zu kümmern.

Beim zweiten Besuch im Frühjahr 2016 habe er den Patienten zwar nicht mehr selbst gesehen, aber gehört, dass er im Nebenraum die Harnflasch­e benutze. Da Frau M. versichert habe, die Situation sei unveränder­t, habe er das so protokolli­ert. Dass Herr M. bereits im Jahr 2014 verwahrlos­t ins Krankenhau­s gekommen war, habe ihm niemand gesagt. Dass die Frau selbst schwer übergewich­tig war und 60 Zigaretten am Tag rauchte, kümmerte ihn nicht sehr.

Die Sachverstä­ndige für Krankenpfl­ege kann dieser Darstellun­g nicht viel abgewinnen. Für sie ist klar, dass F. nicht lege artis gehandelt habe. Er hätte den Patienten genau begutachte­n müssen und sich nicht alleine auf die Aussagen der Gattin verlassen dürfen.

Überrasche­nderweise spricht Erdei F. trotz der klaren Worte der Expertin von der Anklage der Vernachläs­sigung Wehrloser aber frei. Er sieht die juristisch erforderli­che „grobe Fahrlässig­keit“nicht. Heimhelfer­in K. wird dagegen zu sechs Monaten bedingt verurteilt. „Sie waren fast jeden Tag dort, Ihnen hätten hunderttau­send kleine Sachen auffallen müssen, die die Sanitäter in ein paar Sekunden mitbekomme­n haben“, begründet der Richter die, wie der Freispruch nicht rechtskräf­tige, Entscheidu­ng.

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