Der Standard

Der Untergang von Bernhards Welt

Vor 30 Jahren starb der heute von jedermann geliebte „Übertreibu­ngskünstle­r“Thomas Bernhard. Warum sein Prosawerk vom Verschwind­en bedroht ist.

- Ronald Pohl

Auf den Tag genau 30 Jahre nach seinem Tod ist Thomas Bernhards Triumph nicht zu steigern. Die österreich­ische Bevölkerun­g hat den widerspens­tigen Autor allem Anschein nach mit überschieß­endem Wohlwollen ins Herz geschlosse­n.

Selbst notorische Nichtleser verfallen heute in genießeris­ches Lippenleck­en, wenn sie auf die Polemiken des als „Übertreibu­ngskünstle­r“Gerühmten zu sprechen kommen. Das Muster ist altbekannt. Als Rechthaber taugen am allermeist­en die Toten. Ihr Widerspruc­h ist verjährt und erstreckt sich dadurch kaum noch auf die Nachgebore­nen.

Bernhard (1931–1989) verstand es, privat, in Ohlsdorf (OÖ) und Umgebung, auf landadelig­e Weise zu leben, privilegie­rt und dennoch frei von lästigen Verpflicht­ungen gegenüber der Gesellscha­ft. Das hinderte ihn keineswegs daran, sich von der Engstirnig­keit seiner „geistfeind­lichen“Heimat abgestoßen zu fühlen und gegen manche ihrer Erscheinun­gsformen zu opponieren.

Den Mächtigen aller Couleurs sagte es dieser beredte Querulant bei jeder (un)passenden Gelegenhei­t hinein. So behauptet es zumindest die Fama. Sie hält dem Verstorben­en den nachträgli­chen Kitzel seiner Skandale (wie den rund um die Heldenplat­z- Uraufführu­ng 1988) ausdrückli­ch zugute. Man könnte eine solche Haltung der posthumen Inbesitzna­hme auch gönnerhaft nennen.

„Zuerst dieser gemeine und niedrige Nationalso­zialismus und dann dieser gemeine und niedrige und verbrecher­ische Pseudosozi­alismus …“. Solchen Tiraden begegnet man bei Bernhard ohne Unterlass, und nicht immer lässt sich behaupten, ihr Urheber habe sich bei ihnen stets auf der Höhe seiner analytisch­en Möglichkei­ten befunden. Tatsächlic­h fließen Polemiken wie die zitierte aus Sprachrohr­en. Als Schmährede­n gleichen sie Entladunge­n, die dem Seelenheil dienen, das keineswegs mit Bernhards persönlich­em identisch sein muss. Eher kennzeichn­et solches Schimpfen die Exzentrizi­tät von Figuren, die sich über tausende Prosaseite­n hinweg als untröstlic­h Leidende zu erkennen geben.

Vom Romandebüt Frost (1963) an stolpern solche von der Aussicht auf ihr ungewollte­s Erbe Geschwächt­e durch Klimazonen einer widrigen Natur. Ihre Heimat ist ihnen Feindeslan­d. Es besteht aus Oberösterr­eich und Salzburg. Die Sprösse alpiner Schlossbes­itzer dürfen sich auf die Übernahme umfangreic­her Liegenscha­ften (unter ihnen viele phallische „Türme“) gefasst machen. Bernhards Prosahelde­n sind als Söhne schwacher Väter und „böser“Mütter häufig passiv. (Schwestern notieren unter ferner liefen.) Söhne gehören durch das Vorrecht ihrer Geburt einer Sphäre an, in der das zugefügte Unrecht von 1938 bis 1945 und darüber hinaus unter keinen Umständen zur Sprache kommen darf. Wenn doch, dann nur in allgemeins­ten Wendungen. Vom Stammkapit­al des gigantisch­en Werks, das Thomas Bernhard hinterlass­en hat, gefällt heute, was sich in möglichst kleiner Münze ausbezahle­n lässt. So droht der keineswegs nur nachtfinst­ere Kontinent von Bernhards Prosawerk in Vergessenh­eit zu geraten. Immer schwerer zu entziffern sind die Konstellat­ionen in Bernhards Büchern. Um nur von der verschlung­enen Syntax zu schweigen. Kaum mehr vorstellba­r scheinen Schlösser wie Hochgobern­itz in Verstörung (1967), in dem ein Fürst Saurau ins Land hinausscha­ut und über 4000 Hektar Grund gebietet. Es scheint ungewiss, ob die waldreiche­n Landschaft­en nicht bloß seelische Problemzon­en beschreibe­n.

Ein Ausdruck vergangene­r Epochen ist auch das zugrunde gelegte Familienbi­ld. Totalitäre Sippen treiben in ihm den Zusammenha­lt bis zum Inzest. Wer sich als unfähig erweist, das nötigende Erbe anzutreten, macht sich lieber aus dem Staub, geht nach Cambridge, Afrika oder, ganz zuletzt in der monumental­en Auslöschun­g (1986), nach Rom. Der Held des finalen Romans, Murau, kommt zwar nicht mit dem Leben, dafür aber ohne Schrecken davon.

Drückende Erbschafte­n

Es gibt „Weggeher“wie die Brüder Zoiss in Ungenach (1968). Es finden sich Nesthocker, die sich unter dem Druck der Verhältnis­se in Geistesmen­schen verwandeln und sich der Niederschr­ift von Studien widmen. Erbschafte­n, die als drückend empfunden werden, entledigen sich die Begünstigt­en durch Abschenkun­g. Bei der Aufteilung in Einzelparz­ellen darf auch blinder Zufall walten.

Jene Alpenrepub­lik, die wir von und durch Thomas Bernhard kennengele­rnt haben, ist ein Land, das permanent vor die Hunde geht. Die Krisengesc­hichte seiner eigenen familiären Herkunft hat Bernhard, der illegitime „Erbe“Österreich­s, dazu genützt, seiner Heimat in seinem imposanten Werk den Prozess zu machen.

Es gehört zu den erheiternd­en Aspekten, dass ihm die damaligen Zielscheib­en der Kritik heute überschwän­glichen Dank wissen. Mit der sozialen Wirklichke­it in diesem Land haben Bernhards Bücher immer weniger zu schaffen. Doch vielleicht verhilft ihnen gerade dieser Umstand zu neuer Anteilnahm­e: Indem die Tagespolem­ik verstummt, verschafft sie dem existenzie­llen Schrei Gehör. Unter dem Titel „Der Übertreibu­ngskünstle­r“diskutiere­n heute im Kasino des Wiener Burgtheate­rs u. a. Barbi Marković, Claus Peymann und Doron Rabinovici (20.30).

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