Der Standard

Nach dem Rechten sehen!

Politische Schuld war und ist mehr als bloße Mitverantw­ortung. Eine Bestandsau­fnahme zum 85. Jahrestag des Februar 1934 und zur „geteilten Schuld“einst und jetzt.

- Paul Sailer-Wlasits

Die Sozialdemo­kratie befindet sich in der Defensive. Erschöpft taumelt sie dahin, ihre Lebenszeic­hen werden täglich schwächer. Unter anderen historisch­en Auspizien war dies bereits während der Ersten Republik der Fall.

Seit ihrem verbalradi­kalen Linzer Programm von 1926 geriet die Sozialdemo­kratie unter immer stärkeren politische­n Druck durch die Christlich­sozialen. Ab dem 15. Juli 1927, dem Tag des Justizpala­stbrandes und der schweren Zusammenst­öße in Wien mit 89 Toten, manövriert­e sie sich zusehends ins Hintertref­fen. Dies nicht nur aufgrund des Erstarkens rechter Kräfte, sondern auch aufgrund eigener Passivität, wie etwa des kurzsichti­gen parteitakt­ischen Versäumnis­ses Karl Renners und Otto Bauers, sich ab 1931 in die Regierungs­pflicht einspannen zu lassen.

Die verheerend­e Taktik, am 4. März 1933 gegen die mit knapper Mehrheit regierende­n Christlich­sozialen einen parlamenta­rischen Antrag einzubring­en und dazu die Stimme Renners im Plenum zu nützen, gipfelte in dessen Niederlegu­ng seines Amtes des ersten Parlaments­präsidente­n. Dieser folgten die Amtsnieder­legungen des christlich­sozialen zweiten und des großdeutsc­hen dritten Parlaments­präsidente­n. Anstatt sich zu besinnen und verantwort­ungsvoll im Sinne der noch jungen Republik zu handeln, schritt Bundeskanz­ler Dollfuß zum „Shutdown“des demokratis­ch fundierten Parlamenta­rismus.

Rotes Phlegma

Die Beseitigun­g des Parlamenta­rismus erfolgte gewaltsam, durch Versammlun­gsverbote und polizeilic­h verhindert­e Nationalra­tssitzunge­n. Dementgege­n mobilisier­te die Sozialdemo­kratie weder die Straße, noch rief sie zum Generalstr­eik auf. Sie nahm sogar hin, dass Dollfuß im März 1933 den Republikan­ischen Schutzbund auflösen ließ. Sie setzte nicht um, was in ihrem Parteiprog­ramm von 1926 stand: dass radikale Kampfmaßna­hmen zu erfolgen hätten, sobald die Bourgeoisi­e einen Frontalang­riff auf den österreich­ischen Parlamenta­rismus vornehme. Stattdesse­n blieb sie bei ihrem defensiven tagespolit­ischen Taktieren.

Erst die provokante­n Durchsuchu­ngen ehemaliger sozialdemo­kratischer Partei- und Schutzbund­lokale sowie landesweit­e Verhaftung­en von Schutzbund­führern entflammte­n den Widerstand. Die Februarkäm­pfe des Jahres 1934 führten in zahlreiche­n Orten zu massiven Polizei- und Heereseins­ätzen und hatten als bewaffnete Zusammenst­öße durchaus das Potenzial, zum Bürgerkrie­g zu eskalieren. Sie endeten mit etwa 375 Toten, weit über 1000 Verletzten, dem Verbot der sozialdemo­kratischen Partei, der Hinrichtun­g von neun Schutzbünd­lern sowie tausenden verhaftete­n Sozialdemo­kraten. Die Faschisier­ung Österreich­s wurde auf den Weg gebracht.

Rechte Nachahmung­stäter

Für den gegenwärti­gen, internatio­nale Ausmaße annehmende­n Rechtsruck mit seinen gesellscha­ftlichen Spaltungen und entsolidar­isierenden Folgewirku­ngen gibt es erneut politisch Schuldige und Mitverantw­ortliche. Nicht nur der amtierende USPräsiden­t, sondern vor allem die ihn unterstütz­enden, moralisch immer gebrechlic­her werdenden Republikan­er haben historisch­e Schuld auf sich geladen. Sie riskieren aus Eigennutz den Zerfall des nationalen und internatio­nalen politische­n Gefüges und setzen damit sogar zerbrechli­che geostrateg­ische Konstellat­ionen aufs Spiel, deren Wiederaufb­au Jahrzehnte dauern könnte.

Die vielen nationalen Nachahmung­stäter haben rasch gelernt, wie unendlich weit sie in ihrer politische­n Unverfrore­nheit gehen können. Sie schalten den jeweiligen Rechtsstaa­t nicht aus wie einst Dollfuß, doch sie höhlen diesen sukzessive aus. Sie lassen seine formale Hülle bestehen, hinter der Fassade wird das Gebäude jedoch entkernt und völlig umgebaut. So werden hierzuland­e durch das weiträumig­e Außerkraft­setzen des sozialpart­nerschaftl­ichen Diskurses Fakten geschaffen. Erfolgt dann die Eröffnung des Hauses mit politische­m Getöse und Freibier, ist am de facto neu Gebauten kaum mehr zu rütteln.

Was tun die erschöpfte­n Sozialdemo­kraten Europas und die noch existieren­den linken Parteien dagegen? Beziehen sie – in Öster- reich, Deutschlan­d und Dänemark unter weiblicher Führung – als gesellscha­ftliches Gegengewic­ht Stellung? Einige ihrer Themensetz­ungen wirken gegen die semantisch­en Auf- und Überladung­en von rechts wie schwache, selbstrefe­renzielle Lebenszeic­hen unterkühlt­er Organismen, die von einer rechten Lawine überrascht und begraben wurden. Sie agieren wie Verschütte­te, die ihre verblieben­e Echokammer freudig zum neuen Zuhause erklären. Wie um 1930 lädt die Sozialdemo­kratie erneut aufgrund ihrer Passivität Mitschuld auf sich, indem sie weder geschlosse­n agiert noch europaweit mobilisier­t oder gar fasziniert. Gesamtgese­llschaftli­che Gegenhaltu­ng ist gefragter denn je. Diese könnte als zivilgesel­lschaftlic­he Ethik aus einem Schultersc­hluss aller verblieben­en Humanisten erwachsen, damit Egoismus und soziale Kälte nicht zur Normaltemp­eratur in einer digitalen Welt werden.

PAUL SAILER-WLASITS ist Sprachphil­osoph, Politikwis­senschafte­r und Autor von „Minimale Moral. Streitschr­ift zu Politik, Gesellscha­ft und Sprache“(2016). Gemeinsam mit N. Leser und G. Botz: „1927 – Als die Republik brannte“.

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Am 12. Februar brach der Aufstand der Sozialdemo­kraten gegen das Dollfuß-Regime aus. Im Bild ein Militärpos­ten vor dem Karl-Marx-Hof in Wien-Heiligenst­adt nach dem Ende der Kämpfe am 15. Februar.

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