Umstrittener Prozessauftakt
In Madrid wurde am Dienstag das Verfahren gegen führende Persönlichkeiten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung eröffnet. Vorwürfe der Politjustiz weist Spanien zurück.
Die ersten Protestierenden standen früh auf. Mitten in der Nacht projizierten sie trotz starker Sicherheitsvorkehrungen ein Video auf die Fassade des Obersten Gerichtshofs in Madrid. Es zeigte brutale Polizeieinsätze gegen Wahllokale und friedliche Bürger am 1. Oktober 2017, bei denen nach Angaben der Organisatoren zufolge knapp 1000 Verletzte zu beklagen waren. Derweilen bereiteten sich in Katalonien selbst kleine Gruppen darauf vor, wichtige Straßen zu blockieren. Für den Abend waren in der gesamten Region Kundgebungen gegen die spanische Justiz angekündigt.
Der Anlass: Vor dem Obersten Gericht Spaniens müssen sich seit Dienstag zwölf Angeklagte wegen des Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017 verantworten. Die Gruppe besteht aus dem ehemaligen Vizepräsidenten der katalanischen Regierung, Oriol Junqueras, einem Großteil seiner Minister, der ehemaligen Präsidentin des Autonomieparlaments Carme Forcadell sowie den beiden Aktivisten Jordi Sànchez und Jordi Cuixart von der Katalanischen Nationalversammlung und dem Kulturverein Òmnium.
Ihnen allen werden „Rebellion“, „Aufstand“und „Veruntreuung öffentlicher Gelder“vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert in dem Mammutverfahren mit mehr als 500 Zeugen, das mindestens drei Monate dauern soll, zwischen 17 und 25 Jahre Haft.
Vor dem weiträumig abgesperrten Gerichtsgebäude im Zentrum Madrids versammelten sich mehrere Hundert Menschen, um gegen das Verfahren zu demonstrieren. „Strafrechtlich gesehen macht das alles keinen Sinn“, beschwerte sich der aktuelle katalanische Parlamentspräsident Roger Torrent, der sich wie mehrere katalanische und auch baskische Abgeordnete hier eingefunden hatte. Denn die Bewegung vor dem Referendum und am Tag der Abstimmung selbst sei friedlich gewesen. „Rebellion“oder „Aufstand“sei deshalb nicht gegeben. Torrent nahm ebenso wie der katalanische Regierungschef Quim Torra anschließend auf den Zuschauerbänken des Gerichtssaals Platz.
Puigdemont im Exil
Gruppen von Verfechtern der spanischen Einheit zogen mit Nationalfahnen durch die Seitenstraßen rund um das Gerichtsgebäude und forderten Haft für den einstigen katalanischen Regierungschef Carles Puigdemont. Dazu jedoch wird es nicht kommen. Puigdemont befindet sich in Belgien auf freiem Fuß, nachdem das Oberlandesgericht in Schleswig-Hol- stein seine Auslieferung wegen „Rebellion“verweigert hat. Die deutschen Richter sahen keine Gewalt gegeben, die eine solche Auslieferung an die spanische Justiz gerechtfertigt hätte.
Innerhalb der Polizeiabsperrung zog keiner so viel Aufmerksamkeit auf sich wie Santiago Abascal, Chef der rechtsextremen Vox, die als öffentliche Nebenklägerin auftritt. Das Referendum sei „das schlimmste Vergehen seit dem Inkrafttreten der Verfassung 1978“, erklärte ein Parteisprecher – und vergaß dabei geflissentlich den gescheiterten Militärputsch in Spanien am 23. Februar 1981.
„Dieses Verfahren verletzt das Recht, frei zu protestieren“, beschwerte sich hingegen Andreu Van Den Eynde, Verteidiger von Vizeregierungschef Junqueras, der als erster Anwalt das Wort ergriff. Die spanische Justiz habe „alle verfassungsmäßigen Freiheiten verletzt“und verfolge „Dissidenten“.
In seiner langen Ausführung zitierte Van Den Eynde Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Alle Proteste, die in Katalonien stattgefunden haben, seien von dieser Rechtssprechung geschützt. Die Botschaft an die sieben Richter des Obersten Gerichtshofs ist klar: Sollten die zwölf Angeklagten wegen „Rebellion“und „Aufstand“verurteilt werden, ziehen sie nach Straßburg. Das Verteidigerteam rechnet sich dort gute Chancen aus.
Warnungen vor Fake-News
Spanische Diplomaten klagen indes über gezielte Falschinformationen, mit deren Hilfe katalanische Separatisten die Legitimität des Gerichtsverfahrens auch im Ausland infrage stellen würden. „Es gibt in Spanien keine politischen Gefangenen“, hieß es etwa am Dienstag aus Botschaftskreisen in Wien. „Was es gibt, sind Politiker im Gefängnis.“
Die Gewaltenteilung im Land werde von keiner internationalen Organisation angezweifelt. Vielmehr habe gerade das Unabhängigkeitsreferendum 2017 demokratische Mindeststandards vermissen lassen. Vor allem aber würden die Angeklagten nicht wegen ihrer Gesinnung vor Gericht stehen, sondern wegen des Vorwurfs, Gesetze gebrochen zu haben: „Es kann kein Referendum über eine Frage geben, die im Widerspruch zur Verfassung steht“, erklärte ein Diplomat.
Freilich könne man die Verfassung auch ändern, ergänzte er. „Aber das kann nur auf gesamtstaatlicher Ebene passieren.“p Kommentar derStandard.at/Spanien