Der Standard

In Frankreich grassiert der Antisemiti­smus

Drastische Zunahme im Jahr 2018 verzeichne­t

- Stefan Brändle aus Paris

Das französisc­he Innenminis­terium meldet einen deutlichen Anstieg antisemiti­scher Akte im Jahr 2018. Diese sind im Vergleich zum Jahr davor von 311 auf 541 gestiegen. Das bedeute eine Zunahme um 74 Prozent, teilte Innenminis­ter Christophe Castaner mit.

Aktuelle Schlagzeil­en macht der Trend auch, weil er sich ins laufende Jahr fortsetzt: Das private Büro für Achtsamkei­t gegen Antisemiti­smus ließ verlauten, heuer habe es fast doppelt so viele Meldungen wie im Vergleichs­zeitraum 2018 erhalten. „Die Atmosphäre verschlech­tert sich allgemein“, sagt Büroleiter René Lévy. „Antisemiti­schen Beleidigun­gen explodiere­n geradezu.“

Einige Aggression­en weckten in den vergangene­n Tagen besondere Aufmerksam­keit. Im Stadtzentr­um von Paris sprühten Unbekannte das Wort „Juden“auf das Schaufenst­er eines Bagelshops. Das deutsche Wort erinnerte Vertreter der jüdischen Gemeinscha­ft Frankreich­s – der größten Westeuropa­s – direkt an die Novemberpo­grome und andere Judenverfo­lgungen durch die Nazis.

Baum umgesägt

Beim Mahnmal von Ilan Halimi, einem 2006 zu Tode gequälten Entführung­sopfer, wurde ein zur Erinnerung gepflanzte­r Baum umgesägt. Castaner fuhr an den Tatort und erklärte: „Wir werden noch viel schönere Bäume pflanzen.“Zudem kündigte er eine Strafklage gegen unbekannt an. Das gleiche Vorgehen plant die Pariser Bürgermeis­terin Anne Hidalgo gegen die Urheber von Hakenkreuz-Inschrifte­n auf künstleris­chen Straßenpor­träts von Ex-Ministerin Simone Veil.

Schaut man sich die Statistike­n genauer an, ist die jüngste Zunahme auch durch die Abnahme in den beiden Vorjahren auf gut 300 bedingt. Vor 2016 war die Zahl nämlich auf teilweise über 800 gestiegen. Auf lange Sicht betrachtet liegt die neueste Zahl von 541 antisemiti­schen Akten im Durchschni­tt. Das ändert aber nichts an der starken Zunahme seit dem letzten Jahr.

Dieses Auf und Ab erklärt sich wohl durch die politische Stimmung im Land. Sie scheint mitverantw­ortlich für die diversen antisemiti­schen „Fieberschü­be“, die Frankreich immer wieder heimsuchen. Dabei überlagert sich die Lage in den maghrebini­schen Banlieuevi­erteln oft mit den Spannungen im Nahen Osten.

Zielscheib­e Macron

Politisch brisant sind die aktuellen Attacken aber derzeit eher, weil sie mitten in die Gelbwesten­proteste fallen. Sie zeugen ihrerseits von einer krassen Verschlech­terung der politische­n Stimmung, ja einer zunehmende­n politische­n Aggressivi­tät. So wenig rassistisc­h oder antisemiti­sch das Gros der „gilets jaunes“auftritt, so penetrant thematisie­ren Rechts- und Linksextre­misten Macrons frühere Tätigkeit für die Bank Rothschild.

Wie rüde die politische Auseinande­rsetzung geworden ist, zeigen auch die jüngsten Brandansch­läge, Verbalinju­rien und Morddrohun­gen, die nicht antisemiti­sch motiviert sind: 60 gewählte Vertreter der Macron-Partei La République en Marche wurden schon deren Opfer – einzig, weil sie den Kurs des Staatschef­s vertreten.

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