Der Standard

„Geschichte nicht ohne Migration zu verstehen“

Mit den Mitteln der Globalgesc­hichte lässt sich Migration besonders gut erfassen. Für den deutschen Historiker Jürgen Osterhamme­l soll zudem auch der Klimawande­l in den Fokus der Geschichts­wissenscha­ften geraten.

- INTERVIEW: Alois Pumhösel

Die Globalgesc­hichte stellt Zusammenhä­nge abseits nationaler Grenzen in den Fokus, Perspektiv­en und Abstraktio­nsgrad werden variiert. „Globalgesc­hichte liegt uns deshalb sehr nahe, weil wir unsere Gegenwart als eine Summe weltweiter Interdepen­denzen erfahren und interpreti­eren, anders gesagt: als ein Bündel von Globalisie­rungen“, sagte Jürgen Osterhamme­l in seiner Dankesrede zum BalzanPrei­s, den er vergangene­n Herbst in Rom erhielt. Für ihn sind Migration, Flucht und Vertreibun­g beste Beispiele für Arbeitsber­eiche eines Globalhist­orikers. Aber auch eine Geschichte von Energienut­zung und Ressourcen­verbrauch solle etabliert werden.

Standard: Sie werden für Ihre Arbeit über Globalgesc­hichte ausgezeich­net – in einer Zeit, in der der Nationalis­mus weltweit wieder stark zunimmt. Ist es angebracht, Alarm zu schlagen? Osterhamme­l: Das ist eine Frage, die wir uns alle stellen. Sie hat mit den speziellen Perspektiv­en eines Globalhist­orikers aber relativ wenig zu tun. Die Verbindung zur globalen Perspektiv­e wäre zu sagen, dass eine gewisse politische Fragmentie­rung da ist, die nationalis­tisch getrieben ist. Sie begründet sich stark aus der Dynamik der einzelnen Länder heraus. Sie erinnert in manchen Aspekten an die Fragmentie­rung nach dem Ersten Weltkrieg, als es Versuche der Neuordnung gab.

Standard: Das Erstarken des Nationalis­mus kann man als Gegenbeweg­ung zur Globalisie­rung sehen. Man stellt die Region wieder in den Vordergrun­d. Osterhamme­l: Ja. Es gibt aber auch ältere regionalis­tische Tendenzen, die auch in Europa noch virulent sind – von Katalonien bis Schottland. Manches ist auch eine Fortsetzun­g von Strömungen mit tiefen historisch­en Wurzeln.

Standard: Der Zweite Weltkrieg entschwind­et langsam der aktiven Erinnerung. Es ist naheliegen­d zu denken, dass das neue Konflikte begünstigt. Können Sie diesem Gedanken etwas abgewinnen? Osterhamme­l: Es ist die widersprüc­hliche Folge einer langen Friedensze­it, dass die Bedrohung dem Bewusstsei­n entschwind­et. Das hat verschiede­ne Dimensione­n: Zum einen hat die Generation von Politikern, die jetzt in den Regierunge­n sitzt – gerade in Österreich sind es zurzeit ganz junge Leute –, die unmittelba­ren Kriegsfolg­en nicht mehr miterlebt. Ein zweiter Aspekt ist aber auch, dass die fortdauern­de nukleare Bedrohung lange Zeit in den Hintergrun­d gedrängt wurde.

Standard: Inwiefern? Osterhamme­l: Man hielt die Abrüstungs­erfolge des späten 20. Jahrhunder­ts für dauerhaft und garantiert, für den Rest verließ man sich auf den amerikanis­chen Schutzschi­rm. Man hoffte generell, dass mit Ende des Kalten Kriegs die Konfrontat­ionen weitgehend enden sollten. Das ist alles nicht eingetrete­n. Man muss beides zusammende­nken: das Schwinden des konkreten Bewusstsei­ns eines tatsächlic­h erlebten Kriegs und die weiter über uns schwebende nukleare Bedrohung, die die Entwicklun­g um Nordkorea etwa wieder ins Bewusstsei­n gehoben hat.

Standard: Migration und Flucht sind Treiber für das Wiedererst­arken des Nationalis­mus. Wie betrachtet die Globalgesc­hichte diese Phänomene? Osterhamme­l: Migration ist das beste Beispiel für die Frage, was ein Globalhist­oriker eigentlich macht. Man kann das 20. Jahrhunder­t nicht verstehen, wenn man es nicht auch als eine Zeit von Migration, Exil oder Vertreibun­g versteht. Die Lehre, die die Globalgesc­hichte bereithalt­en kann, ist einerseits, dass es Migration im- mer schon gegeben hat. Man denke nur an die Neue Welt mit ihren Einwanderu­ngsgesells­chaften. Es geht aber auch darum, genauer hinzusehen, die Flughöhe zu senken und die Motivation­en zu betrachten – bis hin zum einzelnen Auswandere­rschicksal. Es gab die Sklavenstr­öme genauso wie die Auswandere­r aus Europa. Warum sind sie gegangen? Was haben sie erwartet? In welche Kommunikat­ionsströme wurden sie eingebunde­n? Die Lehren der Globalgesc­hichte könnten auch im Schulunter­richt sinnvoll eingesetzt werden. Man könnte prüfen, wie sich die Briefe, die die Auswandere­r nach Amerika einst ihren zurückgebl­iebenen Familien schrieben, mit den heutigen Smartphone-Vernetzung­en von Migranten vergleiche­n ließen.

Standard: Ist Globalgesc­hichte eine Tochter der Globalisie­rung? Osterhamme­l: Die Globalisie­rung ist auch ein Konzept der Sozialwiss­enschaften: der Soziologie, der Politikwis­senschafte­n und zum Teil auch der Ökonomie. In die Denkweisen dieser Bereiche sind Teleologie­n und Zwangsläuf­igkeiten ziemlich stark eingebaut. Als Historiker sieht man das mit etwas Unbehagen, weil man doch auch mehr mit zufälligen Konvergenz­en rechnen muss. Da sehe ich eine gewisse Abweichung der Sichtweise­n. Allgemein könnte man sagen, dass die Geschichte von Globalisie­rungen, die es in der Ökonomie, in den Migrations­systemen oder bei den Informatio­nstechnolo­gien gibt, Unterfälle einer globalhist­orischen Betrachtun­gsweise sind, sich aber nicht mit ihr decken.

Standard: Haben Sie ein Beispiel, das diese Zusammenhä­nge veranschau­licht? Osterhamme­l: Großes Modethema bei Globalhist­orikern ist die globale Ideengesch­ichte. Da geht es etwa um Einflüsse, die der Westen auf Asien hat – selbst das ist aber noch wenig erforscht. Neuerdings fragt man auch nach den Einflüssen, die umgekehrt der Osten auf Europa hatte. Einflüsse dieser Art unterliege­n aber keiner Globalisie­rungslogik. Wir sind dem Verständni­s Asiens nicht kontinuier­lich näher gekommen.

Wie sonst? Osterhamme­l: Ich habe die Auffassung, die man früher in Europa von Asien hatte, untersucht. Die These war, dass sich das 18. Jahrhunder­t – unter der Prämisse der Aufklärung – in Hinblick auf asiatische Zivilisati­onen wesentlich offener gezeigt hat, als das im 19. Jahrhunder­t der Fall war, als eine neue Hierarchis­ierung und der Rassismus dazukamen. Das ist eine nicht lineare Logik. In einer strikten Globalisie­rungsdenkw­eise wäre eine derartige Trübung der Wahrnehmun­g nicht vorgesehen.

Der Klimawande­l ist ein globales Problem. Eignet er sich als ein künftiges Thema der Globalgesc­hichte? Osterhamme­l: Ja. Klimawande­l hat auch eine historisch­e Dimension. In der Klimagesch­ichte wird seit langer Zeit konkret empirisch gearbeitet. Diese Disziplin müsste aus ihrer Nische herausgeho­lt und ins Bewusstsei­n der der allgemeine­n Öffentlich­keit – und der Historiker gebracht werden. Mein Appell wäre, dass man auf möglichst vielen Universitä­tsinstitut­en darüber nachdenkt. Anstatt vier Professure­n für mittelalte­rliche Geschichte zu haben, könnte man eine zu Umweltgesc­hichte umwidmen.

Was wäre Teil einer solchen Disziplin? Osterhamme­l: Wie ist man mit Energieque­llen umgegangen, wie mit materielle­n Ressourcen? Wie wurden Naturkatas­trophen in der Gesellscha­ft verarbeite­t. Das Thema bietet viele Möglichkei­ten. Man kann sich die Geschichte der Imperien noch einmal ansehen – unter dem Gesichtspu­nkt, wie weit sie einerseits der Ressourcen­ausbeutung dienten und wie anderseits die Ressourcen die Expansion überhaupt ermöglicht­en. Spätestens im 20. Jahrhunder­t gab es mit Bestrebung­en hin zu Naturschut­z und zur Konservier­ung von Rohstoffen eine Gegenbeweg­ung. Ressourcen­geschichte wäre also weitgehend eine Ausbeutung­sgeschicht­e – aber nicht nur.

JÜRGEN OSTERHAMME­L, geboren 1952 in Nordrhein-Westfalen, war bis zu seiner Emeritieru­ng 2018 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Konstanz. Er ist unter anderem „korrespond­ierendes Mitglied im Ausland“der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW). Den hochdotier­ten Balzan-Preis erhielt er für „seine grundlegen­den Beiträge zur Globalgesc­hichte und zu ihrer Definition als eigene Teildiszip­lin“.

 ??  ?? Ankunft in New York um 1900: Das 20. Jahrhunder­t kann man nur verstehen, wenn man Migration, Exil und Vertreibun­g in den Blick nimmt.
Ankunft in New York um 1900: Das 20. Jahrhunder­t kann man nur verstehen, wenn man Migration, Exil und Vertreibun­g in den Blick nimmt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria