Wie Kurdenführer Öcalan aus der Haft seinen Einfluss wahrt
Der Kurdenführer Abdullah Öcalan ist in der Türkei auf einer Insel inhaftiert. Kontakt zum Gründer der PKK gibt es so gut wie keinen. Dennoch reicht sein Einfluss auch 20 Jahre nach der Festnahme weit – bis nach Syrien.
Mehmet Öcalan erhielt am Samstag, den 12. Jänner, überraschend Besuch von türkischen Sicherheitskräften. Er dürfe jetzt seinen Bruder sehen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde Mehmet Öcalan auf die Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gebracht. Dort wird der prominenteste Häftling der Türkei gefangen gehalten: Abdullah Öcalan, Gründer und Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der Bruder von Mehmet.
25 Minuten konnten die beiden unter Aufsicht miteinander reden. Seitdem wissen die Anhänger von Öcalan immerhin, dass er noch lebt. Es war Mehmet Öcalan, der seinen Bruder im September 2016 das letzte Mal gesehen hatte. Seitdem gab es zu Apo, wie Abdullah Öcalan von seinen Anhängern genannt wird, keinerlei Kontakt. Der 69-Jährige wird in totaler Isolation gefangen gehalten. Seine Anwälte hatten ihn vor acht Jahren das letzte Mal gesehen, fast 800 Anträge auf Besuch bei ihrem Mandanten sind seither abgelehnt worden.
Öcalan war der einzige Häftling auf der 25 Quadratkilometer großen Insel, 2009 wurden fünf weitere politische Gefangene, die ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt sind, nach Imrali überstellt. Angeblich dürfen die Gefangenen einander für zehn Stunden in der Woche sehen.
Der überfallsartige Besuch, der für Mehmet Öcalan herbeigeführt wurde, ist offenbar den zahlreichen Hungerstreiks geschuldet, die in der Türkei, aber auch in vielen anderen Staaten stattfinden. Prominenteste Hungerstreikende ist Leyla Güven, eine Abgeordnete der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), die erst Ende Jänner in einem lebensbedrohlichen Zustand aus der Haft entlassen wurde. Sie war Anfang 2018 nach Kritik an der türkischen Militäroffensive im syrischen Afrin festgenommen worden. Hunderte weitere Bürgermeister, Abgeordnete und Funktionäre der HDP sitzen heute im Gefängnis. Viele von ihnen haben sich dem Hungerstreik angeschlossen, um gegen die Isolationshaft und für die Freilassung Öcalans zu demonstrieren. Auch in Österreich sind mehrere Aktivisten im Hungerstreik.
Entführung in Kenia
Am 15. Februar ist es auf den Tag genau 20 Jahre her, dass Öcalan in Kenia beim Verlassen der griechischen Botschaft vom türkischen Geheimdienst in dessen Gewalt und nach Ankara gebracht wurde, wo ihm wegen Hochverrats der Prozess gemacht wurde. Zuvor hatte Öcalan versucht, in mehreren europäischen Staaten Asyl zu erhalten. Für seine Anhänger ist der 15. Februar ein Trauertag, an dem jährlich Demonstrationen stattfinden. Diese dürften heuer größer ausfallen. Aus etlichen europäischen Städten sind Sympathisanten Öcalans aufgebrochen, die sich am Wochenende in Straßburg vereinigen und für die Freilassung ihres Idols eintreten wollen.
Öcalan hat 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegründet, die sich mit unterschiedlichen Methoden, zumeist im bewaffneten Kampf gegen die Türkei, für einen eigenen Kurdenstaat oder auch nur für einen Autonomiestatus eingesetzt hat. Zehntausende Tote in bewaffneten Konflikten waren die Folge. Nach Einschätzungen von Nachrichtendiensten hat die PKK immer noch regen Zulauf und kann sich in Europa auf zehntausende Anhänger stützen.
Ihre militärische Basis hat die Kurdenpartei im Kandil-Gebirge im Norden des Irak an der Grenze zum Iran, wo sie von den irakischen Kurdenparteien mehr geduldet als geschätzt wird. Das mag auch an den regelmäßigen Luftangriffen liegen, die von der Türkei aus geflogen werden.
Syrische Schwesterpartei
In Syrien hat sich mit der Partei der Demokratischen Union (PYD) eine Kurdenpartei gebildet, die als Schwesterpartei der PKK gilt, deren militärischer Arm gleichzeitig aber ein enger Verbündeter der USA im Kampf gegen den „Islamischen Staat“war und ist. Das durch den Bürgerkrieg in Syrien entstandene Machtvakuum haben die Kurden, die größte ethnische Minderheit im Land, geschickt für sich genutzt: Mittlerweile kontrollieren sie bereits 20 Prozent Syriens.
In der Region Rojava übt die PYD eine De-facto-Selbstverwaltung aus. Die Kurden haben ihren Machtanspruch auch auf nichtkurdisches, von Arabern dominiertes Territorium ausgedehnt. Und sie kontrollieren den größten Teil des Gebietes an der nördlichen Grenze zur Türkei. Allerdings ist es kein in sich zusammenhängendes Gebiet, das versucht das Regime von Bashar al- Assad, vor allem aber auch die Türkei zu verhindern. Die Region Afrin im Nordwesten Syriens wurde im März 2018 von türkischen Streitkräften gemeinsam mit Milizen der Freien Syrischen Armee teilweise erobert.
Abdullah Öcalan ist in den syrischen Kurdenregionen allgegenwärtig. Sein Konterfei prangt auf Hausmauern, von der Bevölkerung wird er wie ein Heiliger verehrt. Die Distanzierung der PYD von der PKK fällt halbherzig aus. „Worin wir uns nicht unterscheiden, ist die Haltung zu den Ideen von Öcalan“, sagte ein Funktionär im Gespräch mit dem Standard. Die Vision ist ein ebenso sozialistisch wie utopisch anmutendes Weltbild mit totaler Gleichstellung der Völker, der Klassen, aber auch der Geschlechter. „Es geht um radikale Demokratie, an der Mullahs ebenso teilnehmen wie Feministinnen“, sagt Nilüfer Koc, Co-Vorsitzende des Kurdistan National Congress. Die politische Selbstverwaltung wird in Räten organisiert – wie Apo es gewollt hätte. Für die Türkei das zwingendste Argument, eine autonome kurdische Region an ihrer Grenze militärisch zu bekämpfen. Je früher die USA ihre schützende Hand und die Truppen abziehen, desto eher könnten sich die türkischen Streitkräfte daranmachen, den kurdischen Traum an ihrer Grenze wieder zu zerstören.
Öcalan hat der Türkei aus dem Gefängnis heraus mehrfach Friedensangebote unterbreitet, aber auch wieder zurückgezogen. Was er heute der Türkei, aber auch seinen eigenen Anhängern vorschlagen würde, ist unbekannt – von der Gefängnisinsel Imrali dringen keine Nachrichten.