Flüge der Fantasie
Wieder wurde ein funkelnder Schatz gehoben: Das Wiener Kunstforum stellt in „Flying High“Künstlerinnen der Art brut vor. Eine Expedition in unbekanntes Terrain.
Der Geist eines Hohepriesters aus dem antiken Babylon hat ihr die Hand geführt. Davon war Madge Gill überzeugt. An Feen erinnern ihre in Liniennetzen und Ornamenten versponnenen Frauen. Die Zarten scheinen durch ein raumloses Nirwana zu gespenstern, in dem alle Zeiten in eins fallen. In langen Nächten füllte die Britin (1882–1961), deren geradezu manisch kreatives Schaffen der Tod mehrerer Kinder auslöste, meterlange Papierrollen.
Bis aufs Letzte entschlüsseln wird man ihre „individuellen Mythologien“(Harald Szeemann), jene fantastischen Erzählungen der Art-brut-Schaffenden, wohl nie. Aber man kann sie bestaunen. Oder eines der 92 anderen Fantasiereiche, die man nun in der Ausstellung Flying High zu Künstlerinnen der Art brut bereisen kann: Es ist eine schimmernde und funkelnde Schatzkammer, die Kunstforum-Direktorin Ingried Brugger und Hannah Rieger geöffnet haben; mit Namen, die man nie zuvor gehört hat, und oft mit erschütternden Schicksalen hinter Bildern bunter Wunderwelten.
Die Gugginger Künstler August Walla und Johann Hauser gehören weltweit zu den wesentlichen Exponenten der auch Outsider-Art genannten „rohen und ursprünglichen“(brut, frz.) Kunst. Aber wer kennt das Schaffen der in der gleichen Klinik behandelten Barbara Demiczuk? In ihren expliziten Buntstiftbildern wird sexueller Missbrauch geradezu offensichtlich. Freilich, es gibt Ausnahmefiguren wie die Schweizerin Aloïse Corbaz (1886– 1964). Die von Jean Dubuffet, also dem Erfinder des Konzepts antiintellektueller Kunst, geförderte Corbaz ist der einzige weibliche Superstar der Art brut.
Übersehen oder ignoriert
In den 2000ern begann international eine rege Ausstellungstätigkeit zur Außenseiterkunst. 2013 umarmte man die „Außenseiter“sogar auf der Biennale Venedig und präsentierte sie – ohne entsprechende Etikettierung – gemeinsam mit anderen im En
zyklopädischen Palast. Aber nur wenige Künstlerinnen, darunter die Basquiat und die Street-Art beeinflussende Mary T. Smith, wurden bisher mit Soloausstellungen geehrt. Dass man die weiblichen Vertreter vergessen hatte, war 1997 nicht einmal Ingried Brugger selbst aufgefallen, als sie gemeinsam mit Peter Gorsen Kunst und
Wahn kuratierte. Aber es fiel auch sonst niemandem auf. Und es störte wohl auch niemanden.
Und so ist Flying High auch so etwas wie ihre Wiedergutmachung – eine fulminante, quasi mit kaiserlicher Schleppe: Ganze 14 Meter lang ist nämlich eine Arbeit aus dem von Romantik durchdrungenen, schillernden und erotischen Prinzessinnenkosmos von Aloïse Corbaz. Als Gouvernante am Hof Wilhelms II. steigerte sie sich in eine fiktive Liebesaffäre mit dem Kaiser hinein. Als ihr Hirngespinst wahnhafte Züge bekam, führte das zur Einweisung in die Psychiatrie. Dort entstanden leuchtende „Ich-Asyle“(Brugger), kreative Zufluchten, bis zum Bildrand mit Ornament oder Blumen gefüllt, mit entblößten Brüsten, die Rosenköpfen oder Kamelienblüten gleichen. Männer verkommen neben dieser Opulenz zur schmächtigen Staffage.
Mit Else Blankenhorn (1873–1920) hätte Corbaz vermutlich Zickenkriege geführt, denn diese hielt sich sogar für die Gattin Wilhelms II. Ihre verträumten Episoden erinnern leise an Chagall oder die Farbigkeit des Blauen Reiters. Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner, der nach einem Nervenzusammenbruch im selben exklusiven Nervensanatorium genas, schätzte sie. In
Bildnerei der Geisteskranken (1922), jener zur inspirationssprühenden Bibel der Surrealisten werdenden ersten Enzyklopädie der Außenseiterkunst, hätte ihr der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn beinahe ein Kapitel gewidmet. Beinahe. Dann fehlte das Geld für solche Extravaganzen.
Von der Krankenakte zur Kunst
Mit der Kollektion Prinzhorns, der in den Arbeiten erweiterte Krankenakten sah, beginnt die Schau. Sie stellt historische Sammlungen vor (etwa jene, einen Paradigmenwechsel einleitende von Dubuffet) und verdeutlicht mit Werken aus 21 Ländern obendrein, dass der Begriff Art brut heute längst über das in Psychiatrien Geschaffene hinausgeht. Inkludiert sind heute auch die Werke gehandicapter oder „mediumistischer“(von Geistern geführter) Künstlerinnen.
Nicht immer sind die Beispiele in diesem Kaleidoskop von so strahlender Farbgewalt wie die mit Stickerei verschmelzenden Blumenschwelgereien Anna Zemánkovás, sie führen auch in die Düsternis und Einsamkeit durchlittener Depressionen und Psychosen: Der mehrgesichtige Alien, den die Österreicherin Ida Maly, ein Opfer der NSEuthanasie, schuf, könnte einen bis in die Träume verfolgen. Bis 23. 6.