Der Standard

ZITAT DES TAGES

„Geht wählen am nächsten Wochenende. Sonst entscheide­n Rentner über eure Zukunft, und geil ist das nicht.“

- Sebastian Borger aus London

Der deutsche Youtuber Rezo sorgt mit seinem Politikvid­eo für Furore

Kurz nach elf Uhr kommt die Bestätigun­g: Mit Theresa Mays Amtszeit als Premiermin­isterin Ihrer britannisc­hen Majestät geht es zu Ende. Keine donnernde Rücktritts­rede, kein massenhaft­er Auszug aus dem Kabinett – ein nicht erwähntes Ereignis leitet die Götterdämm­erung ein.

Wie stets am Donnerstag gibt die Regierung auch diesmal das Gesetzgebu­ngsprogram­m für die nächste Sitzungswo­che bekannt. Da das Unterhaus kommende Woche in den vorgezogen­en Pfingstfer­ien weilt, geht es um die darauffolg­ende, die erste Juni-Woche – genau jenen Zeitraum, für den May erst am Dienstagna­chmittag die erneute Vorlage des EU-Austrittsv­ertrages angekündig­t hat.

Kein Wort über den Brexit

Die kurze Ankündigun­g des Regierungs­mitglieds Mark Spencer enthält Debatten über unsichtbar­e Behinderun­gen, Tierschutz und Finanzhaie – erwähnt aber den Brexit mit keinem Wort. Damit ist klar: Die wohl allerletzt­e Chance Mays, das zentrale Vorhaben ihrer Amtszeit in die Tat umzusetzen, ist verstriche­n. Zu stark ist der Widerstand im konservati­ven Kabinett gegen jedes Zugeständn­is an die Opposition, zu gering der Wille bei Labour, geschweige denn bei den kleineren Parteien, der taumelnden Regierung die Hand zu reichen.

May selbst verlässt am frühen Nachmittag ihren Amtssitz in der Downing Street, um den Parteiakti­visten in ihrem Wahlkreis Maidenhead westlich von London für deren Einsatz bei der Europawahl zu danken. Dass die Tories den Umfragen zufolge diesmal bei sieben bis neun Prozent und damit auf Platz fünf landen könnten, hat die Panik in der Unterhausf­raktion verstärkt. Früh am Freitag muss sich die konservati­ve Parteichef­in deshalb mit Graham Brady zusammense­tzen, dem Interessen­vertreter der Tory-Hinterbänk­ler. Vieles deutet darauf hin, dass die 62-Jährige dann den Zeitplan für ihren Rücktritt vom Partei- und Staatsamt auch öffentlich macht.

Die meisten Boulevardz­eitungen haben an diesem Morgen ein Foto der Premiermin­isterin auf der Titelseite, das sofort die Assoziatio­n mit dem Abschied der ersten Frau im wichtigste­n Regierungs­amt weckt: Margaret Thatcher verließ im November 1990 die Downing Street weinend. Hat nun auch May Tränen in den Augen? Selbst die nüchterne Financial Times schreibt, neben einem gänzlich tränenfrei­en Foto, von Mays „versickern­der Autorität“.

Freilich ist die sozial unbeholfen­e, von Ehr- und Pflichtgef­ühl durchdrung­ene Politikeri­n schon häufig totgesagt worden. Hat sie sich wirklich im Bunker verschanzt? Noch funktionie­ren die Mechanisme­n der Macht: Die am Mittwochab­end zurückgetr­etene Ministerin Andrea Leadsom, als „Führerin des Unterhause­s“für das Gesetzgebu­ngsprogram­m der Regierung zuständig, ersetzt May tags darauf durch den FinanzStaa­tssekretär Melvyn Stride.

Brexiteer Leadsom wollte das neue Gesetzespa­ket nicht mittragen, weil darin von der Möglichkei­t einer Zollunion und eines zweiten Referendum­s die Rede sein soll. „Mit großem Bedauern“und schweren Herzens müsse sie deshalb ihre Demission einreichen, schreibt die einstige Rivalin um den Parteivors­itz.

Machtpoker und Harakiri

Leadsoms Rückzug soll Mays Auszug bewirken. Doch die angekündig­ten Rücktritte anderer Brexit-Streiter wie Verkehrsmi­nister Chris Grayling oder Außenhande­lsressortc­hef Liam Fox bleiben aus. Offenbar will das Kabinett nicht für Mays Sturz verantwort­lich sein, ebenso wenig wie das Hinterbänk­lerkomitee „1922“.

Ob sich das Bild ändert, wenn am Sonntagabe­nd die Ergebnisse der Europawahl kommen? Eine Gruppe von Staatssekr­etären plant angeblich für Montag kollektive­s politische­s Harakiri – kein sehr glaubwürdi­ger Plan angesichts der Tatsache, dass am Montag in Großbritan­nien Feiertag ist. Zudem stehen die Herren allesamt im Verdacht, einem bestimmten Nachfolgek­andidaten den Weg ebnen zu wollen.

Außenminis­ter Jeremy Hunt und Innenminis­ter Sajid Javid, ebenfalls Bewerber um Mays Nachfolge, hatte die Chefin am Mittwoch Einzelgesp­räche verweigert – offenbar um das Schicksal ihrer Amtsvorgän­gerin Thatcher zu vermeiden, der damals ein Minister nach dem anderen den Rücktritt nahegelegt hatte.

Hunt beteuerte am Donnerstag, Anfang Juni werde May noch im Amt sein: Am 3. Juni kommt USPräsiden­t Donald Trump auf Staatsbesu­ch, da sähe es nicht geschickt aus, wenn die Premiermin­isterin nur noch kommissari­sch im Amt weilt. Womöglich erhält May also nochmals Aufschub. Nur der Brexit, der bleibt ungelöst.

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Zusammenke­hren vor Theresa Mays Amtssitz.

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