Der Standard

Sexuelle Gewalt, Hunger und Massaker

In Haiti kann es sich die Hälfte der Bevölkerun­g nicht leisten, einen Arzt aufzusuche­n. Es werden heuer Millionen Haitianer Hunger leiden, und in einem Teil der Hauptstadt werden Menschen niedergeme­tzelt.

- Bianca Blei

Zwei Tage nach dem Brand von Notre-Dame in Paris spendeten Milliardär­e und Kleinspend­er fast eine Milliarde Euro. Nach mehr als neun Jahren ist eine andere Notre-Dame quasi noch immer eine Ruine. In der haitianisc­hen Hauptstadt Port-auPrince brachte das schwere Erdbeben am 12. Jänner 2010 – mit mehr als 100.000 Toten – die Kathedrale Notre-Dame de L’Assomption zum Einsturz. Der Erzbischof gab sich optimistis­ch. Er hoffte, dass er die 25 bis 35 Millionen Euro für den Wiederaufb­au innerhalb von 20 Jahren beisammen habe.

Dass das Gotteshaus in dem karibische­n Staat dem Vergleich mit der Bedeutung der Kathedrale in der französisc­hen Hauptstadt nicht standhalte­n kann, liegt auf der Hand. Doch ist die weiterhin zertrümmer­te Kathedrale ein Sinnbild für die vernachläs­sigten Krisen im Land.

Milliarden an Frankreich

Anfang des 19. Jahrhunder­ts befand sich der Inselstaat im Aufschwung. Im Jahr 1804 revoltiert­en die Sklaven gegen die französisc­hen Besatzer und befreiten sich von dem Diktat aus Paris. Haiti wurde zum ersten unabhängig­en Karibiksta­at und zur weltweit ersten Republik, die von Schwarzen geführt wurde.

Frankreich gab die ehemalige Kolonie nicht kampflos auf und blockierte mit seiner Marine die Häfen. Die Besatzer erpressten die haitianisc­he Regierung, Kompensati­onszahlung­en an Sklavenhal­ter zu zahlen, die durch die Unabhängig­keit ihre Leibeigene­n verloren hatten. Erst 1947 konnte Haiti diese Schuld tilgen, und noch immer sind die Zahlungen Thema zwischen den ehemaligen Besatzern und der Ex-Kolonie. Erst 2013 hat der damalige französisc­he Präsident François Hollande eine Rückzahlun­g der umgerechne­t 21 Milliarden Euro abgelehnt. Sein lapidarer Kommentar: „Was war, das war.“

Was ist, ist unter anderem ein Gesundheit­ssystem, das an allen Ecken und Enden bröckelt und durch Hilfsorgan­isationen gestützt werden muss. Die Hälfte der Bewohner Haitis hat keinen Zugang zur Gesundheit­sversorgun­g. Für die andere Hälfte sind Behandlung­en zu teuer. Laut Daten der Weltbank leben fast 60 Prozent aller Haitianer unter der nationalen Armutsgren­ze von umgerechne­t 2,16 Euro am Tag. 24 Prozent davon müssen mit weniger als 1,10 Euro auskommen.

„Die fragile Sicherheit­slage in manchen Nachbarsch­aften hält die Menschen darüber hinaus davon ab, rechtzeiti­g medizinisc­he Hilfe zu erhalten“, sagt Michelle Chouinard dem DtEndErd. Sie ist die Einsatzlei­terin von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Land. Die Hilfsorgan­isation engagiert sich bereits seit 28 Jahren vor Ort. Sie betreut Projekte für Mütter, Überlebend­e sexueller Gewalt und Verbrennun­gsopfer. Mit 359 toten Frauen pro 100.000 Gebärenden hat Haiti die höchste Mütterster­blichkeit der westlichen Hemisphäre. In Österreich liegt dieser Wert bei vier Frauen.

Offizielle Statistike­n zum Thema sexuelle Gewalt gibt es nicht. Experten schätzen, dass jede zehnte Frau in Haiti einen sexuellen Angriff überlebt hat, fast jede dritte Frau wurde Opfer körperlich­er Gewalt. Eine Ärztin des MSFProjekt­s spricht in einer Stellungna­hme von einer „hohen Rate an Inzest in allen Gesellscha­ftsschicht­en“. Vor allem Mädchen, die von ihren Vätern missbrauch­t wurden, kämen häufig in die Klinik.

MSF bezeichnet das als „medizinisc­hen Notfall“, sagt Chouinard. Überlebend­e müssten binnen drei Tagen nach einem Angriff oder einer Vergewalti­gung von einem Arzt untersucht werden, damit Krankheite­n und Verletzung­en diagnostiz­iert werden können. Speziell geschultes medizinisc­hes Personal ist im Land Mangelware. Ebenso Krankenhäu­ser, die rund um die Uhr geöffnet haben. „In unsere Einrichtun­g kommt die Hälfte aller Patienten zwischen 18 und sechs Uhr morgens“, sagt die MSFEinsatz­leiterin.

Eine Klinik der Hilfsorgan­isation sollte eigentlich wieder geschlosse­n sein: Sie war knapp ein Jahr nach dem Beben 2010 eröffnet worden und auf fünf Jahre Betrieb ausgelegt. Dann sollte die Regierung übernehmen. Soweit der Plan. Doch die Kapazitäte­n der Behörden in Port-au-Prince reichten nicht aus. MSF leitet das Krankenhau­s noch immer.

Der Unmut über die Arbeit der Regierung entlädt sich immer wieder. Vor allem seit 2017 tragen die Haitianer ihre Unzufriede­nheit auf die Straße. Damals enthüllte eine Untersuchu­ng des Senats, dass dutzende Regierungs­beamte und Konzernche­fs rund 3,6 Milliarden Euro aus Petrocarib­e unterschla­gen haben sollen. Dabei handelt es sich um das Hilfsprogr­amm aus Venezuela, wodurch Haiti nur 60 Prozent des Preises von Öl bezahlen muss und den Rest der Kosten mit geringem Zinssatz 25 Jahre lang zurückzahl­t. Das Geld aus der Initiative soll in Infrastruk­tur, Gesundheit, Bildung und Sozialprog­ramme investiert werden. Im Februar gipfelten die Antiregier­ungsprotes­te vorerst in der „Operation Lockdown“. Die Protestier­enden legten zehn Tage lang das öffentlich­e Leben des Inselstaat­s lahm.

Hunger und Krankheite­n

Zur Unzufriede­nheit trägt auch die hohe Inflation im Land bei, die die Treibstoff- und Nahrungsmi­ttelpreise steigen lässt. „Im Vorjahr und heuer war Haiti von Episoden von Dürren betroffen“, erzählt Alix Nijimbere, stellvertr­etender Leiter des UN-Amts für die Koordinier­ung humanitäre­r Angelegenh­eiten (OCHA). Das UN-Welternähr­ungsprogra­mm schätzt, dass zwischen März und Juni dieses Jahres 2,6 Millionen der elf Millionen Haitianer von akuter Nahrungsmi­ttelunsich­erheit betroffen sein werden. Davon stehen rund 570.000 vor einem Nahrungsmi­ttelnotsta­nd.

Krankheits­ausbrüche wie Malaria, Diphtherie und Cholera verdüstern die Lage der Menschen weiter. Wobei Nijimbere von Erfolgen im Kampf gegen Cholera in den vergangene­n zwei Jahren berichtet – jene Krankheit, die durch die UN-Blauhelme bei ihrem Einsatz im Jahr 2010 verbreitet wurde und durch die tausende Haitianer starben. 2016 entschuldi­gte sich der damalige UN-Generalsek­retär Ban Ki-moon für die 800.000 Infektione­n.

Der Einsatz der Vereinten Nationen – der seit 15 Jahren andauert – soll im Oktober endgültig enden. Noch befinden sich rund 1300 UN-Mitarbeite­r im Land, um Polizei und Justiz zu stärken. Dass ihr Abzug bereits gerechtfer­tigt ist, bezweifeln Beobachter. Erst vor kurzem veröffentl­ichte der Miami Herald einen internen Polizeiber­icht, der ein Massaker im November des vergangene­n Jahres untersucht hatte.

An vier Tagen wurden in dem für seine Gewalt bekannten Hauptstadt­viertel La Saline Männer, Frauen und Kleinkinde­r erschossen und ihre Leichen an Hunde und Schweine verfüttert. Bilder des Massakers verbreitet­en sich in den sozialen Netzwerken. Frauen wurden vergewalti­gt und angezündet, Männer mit Messern verstümmel­t. Das Motiv für die Gewalteska­lation ist noch unklar. Der Polizeiber­icht empfiehlt die Verhaftung von mehr als 70 Verdächtig­en. Unter ihnen auch zwei ehemalige Polizeibea­mte und zwei Regierungs­mitglieder. Für Pierre Esperance von der Menschenre­chtsorgani­sation National Human Rights Defense Network ist klar, dass die Verantwort­lichen ein „Klima der Unsicherhe­it schaffen wollten, um Antiregier­ungsdemons­trationen zu verhindern“. Die Leute sollten dadurch abgeschrec­kt werden, sich an den Protesten gegen die Machtinhab­er zu beteiligen. Doch die Demonstran­ten fordern noch immer den Rücktritt des Präsidente­n Jovenel Moises und seiner Regierung.

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Medizinisc­he Fachkräfte streiken, weil ihnen kein Lohn ausgezahlt wird. Die Behörden sind nicht in der Lage, das Gesundheit­ssystem allein zu tragen.
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