Der Standard

Sibylle Bergs allgegenwä­rtige Stücke

Warum Sibylle Bergs Stücke derzeit allgegenwä­rtig sind

- Margarete Affenzelle­r

Ihr Twitter-Account trägt den Titel „Kaufe nix, ficke niemanden“und spielt auf die kapitalist­isch ausgeschla­chtete Idee von Liebe an. Und auch sonst bringt die Schriftste­llerin Sibylle Berg vieles schnell auf den Punkt. Wobei: Ihr letzter Roman GRM, die als hellsichti­ge Weissagung gepriesene Dystopie eines nahe liegenden Überwachun­gsstaates, zählt dann doch 640 Seiten. Sie lesen sich indes geschwind. Der Text hat Tempo und Beat und schöpft seine deformiert­en Sprechweis­en aus der wachsenden virtuellen Welt.

Bergs Vokabular befindet sich immer auf der Diskurshöh­e unserer Zeit: „genderflui­d“, „LowPerform­er“, „Influencer-Nutten“. Das hat damit zu tun, dass Berg wie kaum eine Schriftste­llerin am Tropf der Gegenwart hängt. Berg saugt Nachrichte­n gierig auf, um sie zu bewerten. Und sie ist sich auch nicht zu gut, sich via Twitter zeitintens­iv mit anonymen Followern auszutausc­hen. Derzeit wird sie nicht müde, auf verschiede­ne Weise zur EU-Wahl aufzurufen.

Sibylle Berg gehört heute zu den meistgeles­enen Autorinnen und Kolumnisti­nnen des deutschspr­achigen Raums. Ihre Werke wurden in 34 Sprachen übersetzt. Sie selbst ist ihre beste PR-Agentin, auch wenn man in ihren öffentlich­en Auftritten (von Neo Magazin Royale bis Willkommen Österreich) bisweilen einen Widerwille­n spürt, sich selbst außerhalb der eigenen Literatur zu Markte zu tragen. Denn: Es sei ohnehin alles gesagt. Und außerdem: Nichts von dem, was sie sage, stimme. So schützt sie das eigene Denken durch den Panzer einer Star-Persona. Es funktionie­rt prächtig.

Sibylle Berg, die in der DDR aufgewachs­ene und mit einer zerrüttete­n Kindheit (alkoholkra­nke alleinerzi­ehende Mutter) konfrontie­rte, heute in Zürich und Tel Aviv wohnhafte Schriftste­llerin, hat sich selbst erfunden. Vor über zwanzig Jahren hat sie mit abgründige­n Beziehungs­geschichte­n das Publikum im Sturm genommen. Damals ätzten Feuilleton­s noch über die läppischen „Kolumnenth­emen“der Autorin, heute müssen sie einbekenne­n, dass hinter diesen Kolumnenth­emen – etwa im Debütroman Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997) – die Monster des Neoliberal­ismus scharf konturiert hervorleuc­hteten.

Berg wurde fortan mit den knackigste­n Begriffen tituliert, die der Literaturb­etrieb so hergibt: „Kassandra des Klamaukzei­talters“, „Designerin des Schreckens“oder „Höllenfürs­tin des Theaters“. Dem Theater ist Berg schon bald zugelaufen, angezogen von Regisseure­n wie René Pollesch oder Alain Platel. Aber auch wegen der berechenba­reren Verdienstm­öglichkeit­en. Heute hätte sie das nicht mehr nötig, macht für die Bühne aber trotzdem weiter.

Und wie: Derzeit fluten ihre Stücke die Spielpläne österreich­ischer Bühnen: Schauspiel­haus Graz, Phönix-Theater Linz und Volkstheat­er Wien hatten allein seit Jahresbegi­nn Premieren auf dem Plan. Die Wiener Festwochen setzen nun mit der Uraufführu­ng von Hass-Triptychon der Spielserie das Krönchen auf. Die Koprodukti­on mit dem Gorki-Theater Berlin inszeniert der wie eine heiße Kartoffel herumgerei­chte junge Regisseur und Anwärter für die Direktion des Volkstheat­ers Ersan Mondtag. Ebenda läuft das Stück von 24. bis 26. Mai.

Darin moderiert ein „Führer“die Hassbekund­ungen diverser Zeitgenoss­en, von der Teilzeit-Alkoholike­rin bis zum Mann in den besten Jahren im Großraumbü­ro, von jungen Menschen aus der Generation Z bis hin zu einem älteren homosexuel­len und vermutlich genau deshalb arbeitslos­en Kindergärt­ner. Zivilisati­onsekel und Mitleidlos­igkeit schreibt man Sibylle Berg zu. Der kalte Wind des Zynismus bläst einem unnachgieb­ig beim Lesen und auch von der Bühne entgegen. Diese Härte verhängte Berg über ihre Kunst von Beginn an.

 ?? F.: Katharina Lütscher ?? Uraufführu­ng bei den Festwochen: Sibylle Berg.
F.: Katharina Lütscher Uraufführu­ng bei den Festwochen: Sibylle Berg.

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