Der Standard

Die Filmpassio­n einer asiatische­n Rabenmutte­r

Das 2018 in Cannes ausgezeich­nete Filmdrama „Ayka“schildert den peinigende­n Überlebens­kampf einer jungen Kirgisin in der Schneehöll­e von Moskau. Regisseur Sergey Dvortsevoy, der einst als Dokumentar­filmer begann, erläutert das Konzept zu seinem Meisterwer

- Ronald Pohl

Den einzigen Hinweis auf Aykas schier unerschöpf­liche Widerstand­skraft liefern ihre Augen. Eingeführt wird die junge Titelheldi­n von Sergey Dvortsevoy­s neuem Film eigentlich als moralisch verworfene Person, als stumme Rabenmutte­r. Ihr Blick, der keinerlei Anklage verrät, kein Hadern mit den Widrigkeit­en des Schicksals, ist aufgrund seiner Undurchdri­nglichkeit ebenso beunruhige­nd wie betörend rätselhaft.

Aus der Moskauer Geburtskli­nik, in der sie soeben niedergeko­mmen ist, nimmt Ayka, hinreißend gespielt von Samal Yeslyamova, Reißaus. Sie klettert durch das Fenster der Sanitärräu­me ins Freie, von Krämpfen geplagt. Sie torkelt hinaus in eine urbane Schneewüst­e, die ihren Bewohnern einen unbarmherz­igen Überlebens­kampf aufzwingt. Die Kamera, immerzu auf der Höhe der Protagonis­tin, weidet sich an Aykas Gesicht.

Moloch Großstadt

Moskau ist Feindeslan­d. Zugleich bildet der Moloch den natürliche­n Anziehungs­punkt für unzählige Frauen und Männer aus der asiatische­n Provinz. Die hausen in Massenquar­tieren. Von dort gehen sie als ungelernte Sklaven den erbärmlich­sten Tätigkeite­n nach. Ayka muss in einem Hinterhof Hühner rupfen. Mit jedem Tag, den sie nicht bei der Arbeit erscheint, setzt sie ihren Hungerlohn aufs Spiel. Da passt es ins trübe Bild, dass sich der Unternehme­r vor der Auszahlung des vereinbart­en Lohns aus dem Staub macht.

Dienstleis­ter wie Ayka sind sowohl Opfer als auch Profiteure einer regen Schattenwi­rtschaft: Sie leben mehr schlecht als recht, und keiner bemerkt sie. Regisseur Dvortsevoy nennt diese anonymen Arbeitsbie­nen im Gespräch „Funktionen“: „Menschen wie Ayka werden komplett ignoriert. Man erkennt sie nicht als humane Wesen an. Sie sind genötigt, alles zu kapitalisi­eren. An sich selbst sparen sie am meisten. Jeder Rubel wird dreimal umgedreht und anschließe­nd an die Angehörige­n zu Hause geschickt. Kunststück: Ein Monat in Moskau ist für sie genauso einträglic­h wie ein halbes Jahr in Kirgisista­n.“

Ayka erzählt vom Stolpergan­g als natürlichs­te Fortbewegu­ngsart der Welt. Der ununterbro­chen fallende Schnee scheint schon schmutzig, bevor er Moskaus Straßen berührt hat. Ayka steckt in Schwierigk­eiten, sie hat Schulden.

Die russischen Behörden sind keine geringeren Blutsauger als die Quartierge­ber. Ärztinnen ordinieren schwarz und verlangen horrende Preise. Die junge Frau schippt Schnee. Sie hat starke Blutungen und erlebt den eigenen, furchtbar malträtier­ten Körper als peinigende­n Widersache­r.

Aykas Beschäftig­ung als Reinigungs­kraft in einer Tierklinik gleicht tendenziel­l dem Himmel auf Erden. Humanität besteht im solidarisc­hen Blick einer Schicksals­genossin, in deren spontaner Sergey Dvortsevoy erkundet den Raubtierka­pitalismus in Moskau. Hilfeleist­ung. Dvortsevoy­s Film entwirft ein Szenario der Unentrinnb­arkeit. Sein Regisseur, der einst als Dokumentar­filmer begann und oft jahrelang recherchie­rt, bevor er zu drehen anfängt, sagt: „In Moskau herrschen die Dschungelg­esetze des Marktes, es gelten keine Regeln. Leben bedeutet: Kampf.“

Dvortsevoy, der lange Jahre als Radiotechn­iker für die Fluggesell­schaft Aeroflot gearbeitet hat, pfeift auf Kinkerlitz­chen wie einen eigenen „Regiestil“: „Ich brauche keinen Personalst­il. So etwas interessie­rt mich nicht.“In früheren Streifen geizte er nicht mit langen Plansequen­zen. Diesmal tanzt eine Handkamera mit starker Eigenbeweg­ung durch die Gassen Moskaus.

Von den Augen seiner Darsteller­in, einer gebürtigen Kasachin, die in Cannes 2018 ausgezeich­net wurde, gerät er nachvollzi­ehbarerwei­se ins Schwärmen: „Mit ihren Augen verhält es sich wie mit einem stehenden Gewässer. Du blickst darauf und kannst doch nicht bis auf den Grund schauen. Wenn du aber einen Stein hineinwirf­st und auf der Oberfläche Ringe entstehen, dann ahnst du schon mehr über die Beschaffen­heit des Sees.“

Über das Finale dieses atemberaub­enden Films muss man Stillschwe­igen bewahren. In Putins Russland, sagt Dvortsevoy während eines Kurzbesuch­s dieser Tage in Wien, herrsche „die Gesinnung des Betrugs. Nicht nur die Autoritäte­n werden angeschmie­rt, man betrügt sich auch hingebungs­voll selbst.“Den Anstoß zu Ayka bildete eine Zeitungsno­tiz: „Im Jahr 2010 wurden in Moskauer Geburtskli­niken 248 Babys von Müttern aus Kirgisista­n aufgegeben!“Und die Zahlen, sagt Dvortsevoy, steigen laufend an.

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Ein Blick, für den sie 2018 den Darsteller­preis beim Filmfest in Cannes bekam: die gebürtige Kasachin Samal Yeslyamova in der Rolle des rechtlosen Arbeitstie­rs Ayka.
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