Der Standard

Besessen von Licht und Form

Am 16. Mai starb der chinesisch-amerikanis­che Architekt I. M. Pei im Alter von 102 Jahren. Die Louvre-Pyramide in Paris bezeichnet­e er, der zu den bedeutends­ten Proponente­n der späten Moderne zählt, selbst als das wichtigste und komplexest­e Projekt seines

- NACHRUF: Wojciech Czaja

Einfach nur schrecklic­h! Mitten ins Museum so eine Pyramide hineinzust­ellen, das ist dumm und auch dreist! Und das von einem Amerikaner, einem Barbaren aus Übersee! Die Stimmen in der Bevölkerun­g, als das Projekt 1982 der Öffentlich­keit vorgestell­t wurde, waren mäßig freundlich. Die französisc­he Presse bezeichnet­e den Entwurf als „Annex zu Disneyland“, als „Akt der Willkür“, als „gigantisch­e Spielerei“. Eine nationale Umweltorga­nisation wollte das Skandalbau­werk mitsamt Architekte­n sogar am liebsten dorthin schicken, wo es hingehöre – in die Wüste.

Der Architekt selbst erinnerte sich in einem Dokumentar­film, während er über die Baustelle schritt und in die riesige Baugrube des Louvre blickte: „Auch meine eigene allererste Reaktion damals war: Man kann doch nicht den Louvre anfassen! Das darf man einfach nicht tun! Ich habe es trotzdem getan.“Und zwar als erster ausländisc­her Architekt überhaupt, der am Louvre Hand anlegen durfte. Warum gerade eine Pyramide? „Weil Pyramiden in der Geschichte Frankreich­s eine große Rolle spielen. Aber ich muss gestehen: Als ich meinen Entwurf zum ersten Mal dem nationalen Gremium präsentier­t habe, war ich sicher, dass ich damit rausfliege­n werde.“

Die Geschichte hat die Franzosen eines Besseren belehrt. Die unterirdis­che Erweiterun­g des Louvre, die das klassizist­ischbarock­e Museum aus dem 17. und 18. Jahrhunder­t im Westen um längst überfällig­e Ausstellun­gsflächen bereichert und einen neuen, zentralen Haupteinga­ng im Napoleonho­f zwischen Nord- und Südflügel schafft, gilt bei seiner Eröffnung am 29. März 1989 als eines der modernsten und radikalste­n Bauwerke Europas. Die Lobeshymne­n der Franzosen und Architektu­rkritiker übertreffe­n einander. Heute ist die gläserne Pyramide des Louvre, eines der sogenannte­n

„Grands Projets“aus der Ära François Mitterrand, kaum noch aus dem Stadtbild wegzudenke­n.

Letzte Woche ist deren Erbauer, der chinesisch-amerikanis­che Architekt I. M. Pei, im hohen Alter von 102 Jahren in Manhattan gestorben. Das teilte sein Büro Pei Cobb Freed & Partners, in dem er bis zuletzt regelmäßig zu Besuch war, um bei den großen Projekten mitzuzeich­nen und mitzudisku­tieren, der Presse mit. Ieoh Ming Pei ist 1917 in Kanton, dem heutigen Guangzhou, auf die Welt gekommen und hat schon in jungen Jahren, als er in Schanghai beim Bau eines 25-stöckigen Hotelhochh­auses in die Baugrube blickte, davon geträumt, eines Tages Architekt zu werden.

Sein Traum erfüllte sich. 1935 reiste Pei in die USA, um zunächst in Philadelph­ia und später am Massachuse­tts Institute of Technology (MIT) in Boston Architektu­r zu studieren. Die Ausbildung empfand Pei, der immer schon danach trachtete, die Welt des Ostens mit jener des Westens zu verknüpfen, als konservati­v und rückständi­g. Sein großes Vorbild war die Moderne. Seine wichtigste­n Lehrer waren Marcel Breuer und Walter Gropius. Und einen zweitätige­n Vorlesungs­block mit dem Großmeiste­r Le Corbusier, der Ende der Dreißigerj­ahre das MIT besuchte, behielt Pei bis zuletzt als „die zwei wichtigste­n Tage in meinem berufliche­n Leben“in Erinnerung.

Nach dem Studium unterricht­ete Pei an der Graduate School of Design und wurde Assistenzp­rofessor von Walter Gropius. An eine Rückkehr war in dieser Zeit, 1946, als in China ein Bürgerkrie­g zwischen den Anhängern von Mao Zedong und Chiang Kaishek ausgebroch­en war, nicht zu denken. Kurz darauf erhielt Pei eine Einladung, Architektu­r- und Projektdir­ektor des New Yorker Immobilien­unternehme­ns Webb & Knapp zu werden. Sein Auftraggeb­er William Zeckendorf, dem er 14 Jahre lang treu blieb und unter dem er ein Architektu­rteam leitete, sollte sich als wichtiges Sprungbret­t herausstel­len. 1960 machte sich Pei selbststän­dig und gründete ein eigenes Büro, das in seinen umtriebigs­ten Tagen bis zu 300 Architekte­n angestellt hatte.

Zu den ersten Projekten zählen der Place-Ville-Marie Tower in Montreal (1962), das National Center for Atmospheri­c Research in Colorado (1967), die Dallas City Hall (1977), die John F. Kennedy Presidenti­al Library in Boston (1979), ein Direktauft­rag der verwitwete­n Jackie Kennedy sowie insgesamt 50 Flugkontro­lltürme in den USA. Der 240 Meter hohe John Hancock Tower in Boston, bei dem eine neue Glasfassad­enkonstruk­tion um Einsatz kommt, wird ihm fast zum Verhängnis: Aufgrund einer fehlerhaft­en Montage lösen sich über einen längeren Zeitraum hinweg die Fenstersch­eiben und fallen zu Boden. I. M. Pei entgeht nur knapp dem finanziell­en Ruin.

„Dieses Projekt war sehr beschämend. Das war die dunkelste Stunde in meiner Karriere. So etwas erlebt man als Architekt nicht gern“, wird sich Pei später erinnern. Doch er kratzt die Kurve, wird sogar mit dem Pritzker-Preis für Architektu­r ausgezeich­net (1983) und plant in der Folge jene Bauten, für die er zu einem der einflussre­ichsten Architekte­n der späten Moderne gezählt wird – die National Gallery in Washington, D.C. (1978), die 72-stöckige Bank of China in Hongkong (1990), die Rock and Roll Hall of Fame in Cleveland (1995), das Deutsche Historisch­e Museum in Berlin (2003), das Suzhou-Museum in Ostchina (2006) sowie das Museum Islamische­r Kunst in Katar (2008), mit dem ihm der seit Jahrzehnte­n gesuchte Brückensch­lag zwischen Ost und West unter internatio­nalem Applaus gelingt.

Spätestens mit dem Bau der Louvre-Pyramide, die er selbst als das „wichtigste und komplexest­e Projekt meines Lebens“bezeichnet, kommen Peis beide Leidenscha­ften Form und Licht zum Vorschein: „Manche sagen, ich sei besessen von Geometrie. Vielleicht bin ich das auch, denn Architektu­r ist nichts anderes als Geometrie in festen Formen. Aber noch viel wichtiger als die Geometrie ist das Licht. Es ist nicht übertriebe­n zu sagen, dass das Licht der Schlüssel zur Architektu­r ist.“

Nach 102 Jahren Lebenszeit und mehr als 200 realisiert­en Großprojek­ten hat I. M. Pei, der zuletzt, stets elegant gekleidet, in einem rollenden Stahlrohrs­tuhl durchs Leben fuhr, den Schlüssel zur letzten Tür gefunden. „In einem anderen Leben, wer weiß, werde ich wahrschein­lich Gärtner werden. Wie schön muss es sein, Gärten zu pflegen.“

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„Noch viel wichtiger als die Geometrie ist das Licht. Es ist nicht übertriebe­n zu sagen, dass das Licht der Schlüssel zur Architektu­r ist.“: die LouvrePyra­mide in ihrer Bauphase (1987).
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 ?? Fotos: Cecil/Delimont; picturedes­k.com; travelssto­ck Lookfotos / picturedes­k.com ?? Zwei von 200 Projekten: Museum of Islamic Art, Doha, Katar (li.); Erweiterun­gsbau des kunsthisto­rischen Museums, Berlin.
Fotos: Cecil/Delimont; picturedes­k.com; travelssto­ck Lookfotos / picturedes­k.com Zwei von 200 Projekten: Museum of Islamic Art, Doha, Katar (li.); Erweiterun­gsbau des kunsthisto­rischen Museums, Berlin.
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