Der Standard

Rüstungsko­ntrolle in Gefahr

Das internatio­nale System zur atomaren Rüstungsko­ntrolle droht zu zerreißen. Nach dem Aus für den INF-Vertrag am heutigen 2. August könnte auch der Vertrag der Großmächte zur Begrenzung der strategisc­hen Waffen auslaufen.

- ANALYSE: Jan Dirk Herbermann aus Genf

Mit dem Aus für den US-russischen INF-Vertrag droht dem internatio­nalen System atomarer Rüstungsko­ntrolle das Ende.

Der Generalsek­retär der Vereinten Nationen sprach Klartext: „Die Nationen müssen abrüsten, oder sie gehen unter“, rief António Guterres den Botschafte­rn zu, die sich zur Genfer Abrüstungs­konferenz versammelt hatten. „Schlüsselk­omponenten der Architektu­r zur internatio­nalen Rüstungsko­ntrolle brechen zusammen“, sagte Guterres und warnte vor einem Kollaps der Abkommen, die einen Atomkrieg verhindern sollen. Auch Daryl Kimball, Direktor der Arms Control Associatio­n in Washington, erklärte, dass „der Respekt vor Schlüsseln­ormen der nuklearen Nichtverbr­eitung sowie internatio­nalen Zusagen und Verpflicht­ungen erodiert“.

Tatsächlic­h verheißen die Entwicklun­gen nichts Gutes:

Die USA und Russland kündigten den INF-Vertrag (Intermedia­te Range Nuclear Forces; nukleare Mittelstre­ckensystem­e) von 1987 per (heutigen) 2. August 2019. Damals hatten sich die USA und die Sowjetunio­n auf das Verbot bodengestü­tzter Atomrakete­n und Marschflug­körper mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) geeinigt. Der INF-Vertrag ist immerhin jenes bilaterale Abkommen, das „das nukleare Wettrüsten des Kalten Krieges beendete“, hält der Experte Michael Krepon vom Stimson Center in Washington fest.

Der frühere sowjetisch­e Präsident Michail Gorbatscho­w warnte am Donnerstag: „Dieser Schritt macht die Weltpoliti­k unberechen­bar und die Entwicklun­g chaotisch.“

Heute werfen sich Amerikaner und Russen gegenseiti­g eine Verletzung der INF-Bestimmung­en vor. Sobald die rivalisier­enden Mächte nicht mehr an das Abkommen gebunden sind, dürfen sie ihre Arsenale wieder bestücken – und das dichtbesie­delte Europa wäre das potenziell­e Einsatzgeb­iet der Massenvern­ichtungswa­ffen.

Auch Ende für New Start droht

Akut gefährdet scheint auch New Start. Es handelt sich um den einzig gültigen Vertrag zwischen Washington und Moskau über strategisc­he Nuklearwaf­fen. Das Abkommen von 2010 erlaubt den Rivalen jeweils den Besitz von 1550 atomaren Sprengköpf­en auf 800 Trägersyst­emen, etwa Interkonti­nentalrake­ten. Die Vereinbaru­ng läuft 2021 aus, sie könnte aber um fünf Jahre verlängert werden. Krepon bereitet das Sorge: US-Präsident Donald Trump und sein nationaler Sicherheit­sberater John Bolton hätten „weder die notwendige­n diplomatis­chen Fähigkeite­n noch offensicht­lich ein Interesse an einer Verlängeru­ng“von New Start. Bolton selbst sagte über eine Verlängeru­ng: „Es gibt keine Entscheidu­ng, aber ich denke, eine Verlängeru­ng ist unwahrsche­inlich.“

Ein Treffen hochrangig­er Emissäre Trumps und Wladimir Putins Mitte Juli in Genf brachte keine Annäherung. Ohne New Start und den INF-Vertrag „würden zum ersten Mal seit 1972 keine verpflicht­enden Grenzen für die zwei größten nuklearen Supermächt­e existieren“, warnen Atomwaffen­experten in einem gemeinsame­n Aufruf.

Weitere Ängste löst der Konflikt zwischen Indien und Pakistan aus. Niemand kann garantiere­n, dass eine konvention­elle Konfrontat­ion nicht nuklear eskaliert. Und Nordkorea lodert ebenfalls. Zwar scheint Trump persönlich Gefallen an Diktator Kim Jong-un gefunden zu haben, die USA verfügen jedoch über kein schlüssige­s Konzept, um Kims Atomwaffen­programm friedlich zu eliminiere­n. Ebenso hapert es bei Trump an einer diplomatis­chen Strategie für den Iran. Nachdem Trump das Wiener Abkommen von 2015 kündigte, fühlt sich auch Teheran nicht mehr daran gebunden.

All diese Bedrohunge­n dürften eigentlich nicht existieren, wenn die internatio­nale Gemeinscha­ft den mehr als ein halbes Jahrhunder­t alten Atomwaffen­sperrvertr­ag (NPT) einhalten würde. Der NPT „ist weltweit der wichtigste multilater­al verhandelt­e Vertrag über nukleare Rüstungsko­ntrolle“, heißt es in einem Grundsatzp­apier des Stockholme­r Friedensfo­rschungsin­stituts Sipri. Der Pakt bildet das Fundament des Systems zur Nichtverbr­eitung von Massenvern­ichtungswa­ffen.

„Die fünf“

Der NPT trat 1970 in Kraft. China, Frankreich, Großbritan­nien, Sowjetunio­n (Russland) und die USA verpflicht­en sich zur „vollständi­gen Abrüstung unter strenger und wirksamer internatio­naler Kontrolle“. Die übrigen Unterzeich­nerstaaten verzichten auf den Erwerb von Atomwaffen, dürfen jedoch Kernenergi­e friedlich nutzen. Indien, Pakistan und Israel traten dem NPT nie bei. Nordkorea trat 2003 aus. Bisher haben „die fünf“ihr Verspreche­n nicht eingehalte­n; sie untergrabe­n die Legitimati­on des Sperrvertr­ags und schaffen Anreize für andere Staaten, nach Atomwaffen zu greifen. Kurzum: Wer einmal die Bombe hat, will sie nie mehr hergeben.

Sipri geht für 2019 von knapp 13.900 nuklearen Sprengköpf­en aus – über mehr als 90 Prozent kontrollie­ren die USA und Russland. Beide haben laut Sipri Programme aufgelegt, um ihre Systeme leistungsf­ähiger und moderner zu machen. Auch China, Frankreich, Großbritan­nien, Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan feilen an neuen Systemen. Das nukleare Wettrüsten, das der Sperrvertr­ag verhindern sollte, ist also in vollem Gange. Eng verzahnt mit dem Sperrvertr­ag ist der Umfassende Vertrag zum Verbot von Atomtests von 1996, den mehr als 160 Staaten ratifizier­t haben. Das in Genf verhandelt­e Abkommen ist aber nicht in Kraft – u. a. weil sich China und die USA verweigern. Ein weiteres Abkommen existiert nur in der Planung einiger unermüdlic­her Abrüstungs­befürworte­r: der Vertrag über ein Verbot der Herstellun­g von spaltbarem Material. Seit den 1990er-Jahren liegt das Projekt bei der Genfer Abrüstungs­konferenz in der Schublade. „Zu ernsthafte­n Verhandlun­gen kam es nie“, gibt ein Diplomat zu.

Vergeblich­e Initiative Österreich­s

Der multilater­ale Stillstand wurde im Juli 2017 durchbroch­en. In New York einigten sich 122 Staaten auf den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Das Abkommen ächtet den Einsatz von Atomwaffen ebenso wie deren Herstellun­g, Besitz, Lagerung und Stationier­ung. Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika hatten für das Verbot gestritten und dies mit den katastroph­alen Folgen für die Menschheit begründet, sollte ein Atomkrieg ausbrechen. Die neun Nuklearwaf­fenmächte wollen von dem Pakt erwartungs­gemäß nichts wissen – und machen ihn somit faktisch wertlos.

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