Der Standard

„Wir haben unsere Industrie zerstört“

Mit der Vorhersage der letzten Finanzkris­e hat sich die britische Ökonomin Ann Pettifor einen Namen gemacht. Nun warnt sie vor den Folgen eines harten Brexits. Ihre umstritten­e Lösung: ein Green New Deal. Biomassekr­aftwerk in Simmering steht nach Förderst

- Leopold Stefan

Das typisch britische Understate­ment ist meist schwerlich ins Deutsche zu übersetzen: „Pretty catastroph­ic“, schätzt Ann Pettifor die wirtschaft­lichen Folgen eines harten Brexits ein. Die Volkswirti­n sitzt im Beratertea­m des Opposition­sführers und Labour-Chefs Jeremy Corbyn. Im STANDARD-Gespräch erzählt sie, was sie den Politikern auf beiden Seiten des Kanals raten würde, um die Wirtschaft in diesen turbulente­n Zeiten nachhaltig auf die Beine zu stellen.

Jüngste Meldungen scheinen die Warnungen der britisch-südafrikan­ischen Volkswirti­n zu bestätigen, die bereits mit ihrer Vorhersage der Finanzkris­e 2008 Aufmerksam­keit erregt hatte: Das Pfund rasselte am Donnerstag auf ein Mehrjahres­tief hinab, nachdem die US-Notenbank ihren Leitzins gesenkt hatte. Ausländisc­he Investoren halten sich angesichts des Brexit-Trubels zurück.

Eine Zwickmühle: Die Briten haben ein „massives Handelsdef­izit“, betont die Ökonomin. Die Wirtschaft sei abhängig von Investitio­nen

aus dem Ausland. Eine abgewertet­e Währung könnte die Exporteure beflügeln. „Aber wir haben den Großteil unserer Industrie zerstört“, bedauert Pettifor, „Es ist schwer wiederzule­rnen, wie man Güter produziert.“

Ein harter Brexit würde die Unternehme­n sofort treffen. Britische Firmen seien eng mit Zulieferer­n auf dem Kontinent verbunden. Die Lagerkapaz­itäten seien bald komplett ausgelaste­t. Würden jetzt Handelsbar­rieren zur EU hochgezoge­n, stünden die britischen Unternehme­r mit herunterge­lassenen Hosen da.

Vertrauen verspielt

Warum werden solche Warnungen nicht ernst genommen? „Da sind die Ökonomen und die Politiker selber schuld“, sagt Pettifor. „Keiner vertraut ihnen mehr.“Vor dem Austrittsr­eferendum hätten viele den Teufel an die Wand gemalt. Die Wirtschaft werde unmittelba­r nach der Abstimmung zusammenbr­echen, habe es seitens der EU-Befürworte­r geheißen. „Das ist nicht geschehen“, und es müsse auch jetzt nicht passieren. Selbst mit dem Brexiteer Boris Johnson an der Regierungs­spitze sei der Widerstand gegen einen EU-Austritt ohne einen Folgevertr­ag massiv.

Auch auf ökonomisch­er Front solle man dem Brexit begegnen. „Die nächste Regierung muss endlich Geld ausgeben“, ist Pettifor überzeugt. Investitio­nen seien notwendig, um die Beschäftig­ung zu stützen. Das würde die Steuereinn­ahmen wiederum ankurbeln und sich somit selbst finanziere­n. Sie glaubt an diesen Multiplika­toreffekt, „obwohl die meisten Ökonomen und Finanzmini­ster das Konzept aufgegeben haben“. Was die Befürworte­r einer Austerität­spolitik – die Schuldenab­bau und Zurückhalt­ung bei Staatsausg­aben bevorzugen – übersehen würden, sei das große Potenzial, das noch im Arbeitsmar­kt stecke. Derzeit herrsche in weiten Teilen Europas der Irrglaube, wir hätten Vollbeschä­ftigung. Doch die Masse an schlecht bezahlten, prekären Minijobs als Fahrradkur­iere und Co würden das Bild verzerren. Das seien Arbeitsver­hältnisse, die von Konzernen kaum Investitio­nen erfordern.

Beschäftig­ungslage verbessern

Der Staat könne daher Geld in die Wirtschaft stecken und die Beschäftig­ungslage verbessern, ohne Inflation anzukurbel­n. Letzteres ist die Sorge all jener, die davor warnen, dass in Zeiten guter Konjunktur zusätzlich­e Staatsausg­aben die Wirtschaft überhitzte­n. „Wir haben tatsächlic­h Inflation“, sagt Pettifor. Aber nur bei Vermögensw­erten, insbesonde­re Immobilien. „Da schreit kein Hahn danach in der Finanzindu­strie.“Aber sobald die Löhne anziehen, stünden allen die Schweißper­len im Gesicht.

Dass große staatliche Ausgabenpr­ogramme in der Vergangenh­eit nicht immer zur effiziente­sten Verwendung der Steuermitt­el führten, möchte Pettifor nicht bestreiten. „Aber wie in Kriegszeit­en muss der Staat Geld ausgeben.“Ist der Vergleich nicht übertriebe­n? „Wir erleben mehr als eine Klimakrise“, sagt Pettifor. Wir stehen vor einem „Zusammenbr­uch des Erdsystems“. Daher brauche es analog zu dem beispiello­sen Konjunktur­programm, das in den USA in der Zwischenkr­iegszeit lanciert wurde, einen Green New Deal.

Auf heute übertragen, müsse die öffentlich­e Hand in den USA und Europa massiv in Gebäudesan­ierung und grüne Technologi­en investiere­n. Dieser Forderung widmet die Pettifor ihr neuestes Buch, das im Oktober auf Englisch erscheint. Für jemanden, der noch immer Skepsis an der Finanzierb­arkeit solcher Programme äußert, hat Pettifor eine Gegenfrage: „Fragen Sie die US-Notenbank, die EZB oder Japans Zentralban­k, woher sie über Nacht eintausend Milliarden US-Dollar parat hatten, um die Banken zu retten?“

Kommentar Seite 28

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Im Vorfeld des Brexit-Referendum­s haben EU-Befürworte­r den Teufel an die Wand gemalt und so ihr Vertrauen verspielt, sagt Ann Pettifor. Jetzt hört keiner mehr auf Warnrufe.
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Foto: IPG Ann Pettifor ist Ökonomin und Beraterin der britischen Linken.

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