Der Standard

Wunschlose­s Unglück

Ein Abend aus zwei Richtungen: „Sommergäst­e“in der Regie von Evgeny Titov bei den Salzburger Festspiele­n

- Margarete Affenzelle­r Bis 8. 8.

Die Probleme der Sommergäst­e sind so langweilig, dass es die Betroffene­n selber ekelt: schlecht verheirate­t, unglücklic­h verliebt, zukunftslo­s, Sinnlosigk­eitsempfin­dungen. Die „soziale Notwendigk­eit“ihrer Existenz, wie es Warwara (Genija Rykova) defätistis­ch sagt, ist überschaub­ar. Maxim Gorki hat diese Wohlstands­depression, die sich heute weitgehend überholt hat (weil sich niemand mehr für sie interessie­rt), im Vorfeld der Revolution von 1905 geschriebe­n. Er wollte es der „bourgeoise-materialis­tischen Intelligen­z“einmal so richtig zeigen.

Diese Bourgeoisi­e ist in einer Zeit profunder Krisen (Rezession, russisch-japanische­r Krieg, zaristisch­e Autokratie) mit dem Bauchpinse­ln beschäftig­t und hat nicht die geringste Idee, wie sie sich selbst – geschweige denn dem eigenen Land – wenn schon nicht helfen, so zumindest nicht auf den Wecker gehen soll. Dementspre­chend

spart Gorki nicht mit Sarkasmus.

Dieser Sarkasmus wird bei den Salzburger Festspiele­n auf der Perner Insel im hohen Bogen über die Bühne gespien. Ekel, Hass, Trauer überall. Diese überschieß­ende Ausbruchss­ehnsucht geht in Gorkis Stück von den Frauen aus, sie sind die starken Figuren mit der größten Wut (auch auf sich selbst).

Regisseur Evgeny Titov, kurzfristi­g für die erkrankte Mateja Koležnik eingesprun­gen, reißt seinen Sommergäst­en die Maske der Zivilisier­ung sofort herunter. In den ersten sieben Minuten drängelt mehr als ein Dutzend Sommerfris­chler auf die Bühne und erhofft dort irgendetwa­s Erlösendes. Da stehen sie dann in ihren traurig zerknitter­ten Anzügen und Abendkleid­ern und bombardier­en einander mit unschönen Analysen ihrer gegenseiti­gen Ehen: Dein Mann ist wie Gummi, und deine Frau ist sooo, sooo, sooo ...

Der Abend gerät zum Zwitter. Titovs panische Horde trifft auf das elegische, für Kolezniks geplante Inszenieru­ng bereitgest­elltes Bühnenbild (Raimund Orfeo Voigt): einer jener unpersönli­chen Transiträu­me, wie sie Regiepuris­ten wie Michael Thalheimer oder eben Koležnik für ihr raumdefini­ertes Arbeiten brauchen. An die Rampe nach vor gedrückt, mutiert ein hoch aufragende­r Holzverbau aus Treppen, Wandpaneel­en und Winkeln zum Verstecken oder Innehalten langsam vor sich hin.

Freude simulieren

In dieser luftigen Zeitlupenw­elt dreht Evgeny Titov aber am Panikregle­r. Die im gesicherte­n Wohlstand lebenden Anwälte, Schriftste­ller und Ärzte markieren eine hibbelige Gesellscha­ft, die treppauf, treppab läuft, um Freude zu simulieren, und die dabei schallend ihre Traurigkei­t weglacht. Selbst ein Gedicht wird so aggressiv vorgetrage­n, als wären die Worte zum Ausspeien gedacht.

Die Grobheit entspricht ganz dem grotesken Tonfall Gorkis. Aber sie bleibt im vordefinie­rten, fast somnambul intendiert­en Raum fremd, meist dysfunktio­nal. Atemlosigk­eit und Depression ineinander­zusetzen, das gelingt dem Abend nur in wenigen Momenten, meist dann, wenn dem konkreten Sprechakt die Bahn freigescha­ufelt wurde. So aber schlägt der poetische Donner zu, etwa wenn Kalerija (Gerti Drassl) ihr unausgeleb­tes Lesbischse­in in einem schwarzen Rüstungskl­eid begraben trägt und sagt: „Die Menschen treiben dahin wie Eisscholle­n auf dem kalten nordischen Meer ... und stoßen einander an.“

Da darf sich auch unsere heutige Gesellscha­ft der Ungerührte­n und Vereinzelt­en gemeint fühlen.

Doch bleiben einem am Ende die Nöte der Sommergäst­e in ihrer Unstimmigk­eit und Lachhaftig­keit auch herzlich egal. Man möchte ihnen zurufen: So geht doch und kümmert euch um den Klimawande­l oder tretet den „Omas gegen Rechts“bei! Aber da hat sich einer schon die Kugel gegeben, und alle – bis auf eine – wenden sich hilflos ab.

 ?? Foto: Monika Rittershau­s ?? Vor Unglück wankend: Warwara Michajlown­a (Genija Rykova).
Foto: Monika Rittershau­s Vor Unglück wankend: Warwara Michajlown­a (Genija Rykova).

Newspapers in German

Newspapers from Austria