„Ein digitaler Humanismus für Europa“
Ars-Electronica-Chef Gerfried Stocker verrät, warum das Festival als wichtigster Event der digitalen Kultur von heute sein 40-Jahr-Jubiläum zur Entwicklung erster Ansätze für ein grundlegendes Umdenken nützt.
Gerfried Stocker lenkt – mit Christine Schöpf – das heute einflussreichste Festival der digitalen Kultur Europas, wenn nicht weltweit. Gegründet wurde die Ars Electronica 1979.
Er sieht, dass die digitale Revolution einen kritischen Punkt erreicht hat, an dem sie neu gedacht werden muss. Daher wird beim kommenden Festival von 5. bis 9. September darüber reflektiert, wie mit den Problemen zwischen Kapitalisierung und Totalitarismus, Entmündigung und Desinformation umgegangen werden muss.
STANDARD: Was war der wichtigste Impuls der Festivalgründung?
Stocker: Schon 1979 wurde genial erkannt, dass die eigentliche Dynamik des Computers weniger sein wird, was er technisch oder in der Industrie macht. Sondern dass er vor allem eine gesellschaftliche, soziale und kulturelle Dimension hat.
STANDARD: Es gab immer Themen, 1999 „Life Science“, 2009 ...
Stocker: ... oder 1998 „Info War“, ein ganzes Festival über das Internet als Austragungsort von Konflikten und neue Form von Waffe. Wenn wir sehen, wie jetzt Wahlen beeinflusst, Konzerne mit Hackerangriffen unter Druck gesetzt oder Regierungen attackiert werden, dann war das eine unserer visionärsten Veranstaltungen.
STANDARD: Wozu wurde 1996 das Ars Electronica Center eröffnet?
Stocker: Als eine neue Form von Bildungseinrichtung, die Menschen hilft, mit den Herausforderungen der digitalen Revolution umzugehen. Gemeinsam mit dem Ars Electronica Center kam die Gründung des Future Lab. Das war der Anfang einer Entwicklung in die Breite: erstens Kunst und Experiment im Festival, zweitens die Bildungsaufgabe für die breite Bevölkerung hier in Linz mit dem Center – und drittens das Future Lab als Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, die auch mit der Wirtschaft kooperiert.
STANDARD: Warum haben Sie die Ausstellungen im Ars-Center dieses Jahr neu gestaltet?
Stocker: Wir haben alle vier Stockwerke im Gebäude von Grund auf verändert und dabei ganz stark auf die zentrale technische Herausforderung der nächsten Jahre, die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz, ausgerichtet.
STANDARD: Und was passiert in den Ars Electronica Labs?
Stocker: Darin arbeiten wir mit vielen Experten an zentralen Themen – am Beispiel Biotechnologie: Wie funktioniert die Gen-Schere CRISPR/Cas9? Künstliche Intelligenz, Gentechnik und der Klimawandel sind die drei Kernthemen der neuen Ausstellung.
STANDARD: Was kommt in puncto Digitalisierung auf uns zu?
Stocker: Ein Turbo-Boost an Problemen. Wie kommen wir zu einer Autonomie des Einzelnen über seine Datensphäre? Wie gehen wir mit den Attacken auf Demokratie und Freiheit der Meinung über Lawinen von Fake-News und Informationsmanipulation um? All das wird durch die künstliche Intelligenz verstärkt, weil technisch wesentlich mehr möglich wird.
STANDARD: Was besagt das diesjährige „Midlife-Crisis“-Thema?
Stocker: Weg von der Begeisterung darüber, was die Technologie kann, hin zur Verantwortung dem gegenüber, wie wir sie eingesetzt sehen wollen.
STANDARD: Und im Festival ...?
Stocker: ... geht es auch um einen Rückblick darauf, wie es dazu kommen konnte, dass der einstige Traum von einer neuen, mündigen Wissensgesellschaft zum Albtraum einer von Smartphones und Social Media abhängigen, unmündigen Gesellschaft geworden ist. Welche Rolle können Kunst, Kreativität und Bildung dabei spielen, dass wir wieder zu einer Vorstellung von autonomen Individuen und einer Menschenwürde kommen, die auch in den digitalen Lebensräumen Gültigkeit hat?
STANDARD: Was ist das Ziel?
Stocker: So etwas wie ein digitaler Humanismus wäre eine großartige Positionierung von Europa – zwischen dem digitalen Kapitalismus der Amerikaner und dem digitalen Totalitarismus der Chinesen. Darin könnte ja auch wirtschaftlich eine spannende Position für Europa liegen. Darüber wollen wir diskutieren.